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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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verantwortlich, das alles mit der Kamera festzuhalten, sein Apparat war der beste, japanische Marke, wie man sie bei seiner Zeitung benutzte, das Ding hatte Seltenheitswert. Ich bin noch mit ihm los und habe einen Packen Kodak-Filme gekauft. Aber dann erschienen seine so mühsam gemachten Meisterwerke am Ende auf einmal vor Gericht und waren unwiderlegbare Beweise für die eigene konterrevolutionäre Rebellion.
    LIAO YIWU:
    Das war so ähnlich wie bei mir, ich hatte selbst eine ganze Menge von »unwiderlegbaren« literarischen Beweisen fabriziert.
    YU ZHIJIAN:
    Die Menschenmassen waren wie eine Sturzflut, ich als Lehrer, der schon seinen Volksschülern in den Schulen auf dem Land nicht gewachsen gewesen war, ging hier zum ersten Mal auf einem großen Platz unter so vielen Menschen »konterrevolutionärer Aufwiegelung« nach, das fand Widerhall, das strömte nur so aus mir heraus, das zeigte Wirkung. Die Emotionen der Leute gingen hoch, sie haben alle etwas in unsere provisorische Spendenbox getan. Einen Mao, zwei Mao, einen Kuai, zwei Kuai, manchmal auch zehn. Es war erhebend. Damals gab es noch keine Hunderter. Bis heute erinnere ich mich an einen Mann, der zwei Hände voller Scheine in unsere Box steckte. Wir waren erst ein paar Stunden am Aufwiegeln, und in unsere Spendenbox ging schon nichts mehr hinein.
    LIAO YIWU:
    Das war eine Zeit lodernder Begeisterung.
    YU ZHIJIAN:
    Wir hatten über dreitausend Kuai gesammelt, ein paar Studenten aus Hunan haben sich sofort unserem Petitionskomitee angeschlossen und wollten mit nach Beijing.
    LIAO YIWU:
    Wie viele waren das?
    YU ZHIJIAN:
    Vierzig, fünfzig, eine ansehnliche Truppe. Wir bestiegen den Eilzug, der gerade eingefahren war, und fuhren kurz nach neun abends los.
    LIAO YIWU:
    Alleine für die Tickets wird ein Großteil des Geldes draufgegangen sein.
    YU ZHIJIAN:
    Das ging nicht anders. Wir kauften einen Stoß »Bahnsteigkarten« und sind mit großem Hallo in den Bahnhof, hehe, in und vor dem Zug war alles vollgestopft mit patriotischen Massen, wir mussten uns im Durchgang aneinanderquetschen. Als der Schaffner die Fahrkarten kontrollieren wollte und hörte, dass hier ein paar Dutzend Leute waren, die sich selbst als »Petitionäre aus Hunan auf dem Weg nach Beijing zur Unterstützung der Studenten« bezeichneten, ließ er den Zugführer kommen.
    Der fragte sehr höflich, wer von uns die Verantwortung habe? Ich sagte, das sei ich.
    Gut, meinte er, ich verstehe und unterstütze euch auf ganzer Linie!
    Daraufhin hat er eigens angeordnet, dass wir in den Ruheraum der Schaffner durften, wo er zwanzig, dreißig kleine Bänke aufstellen ließ, auf denen wir Patrioten uns abwechselnd ausruhen konnten.
    Tags darauf erreichten wir den Bahnhof von Beijing: Als wir ausstiegen, haben wir das ein halbes Abteil lange Transparent hochgehalten und die Blicke auf uns gezogen. Vierzig, fünfzig Leute, die mit vereinten Kräften Parolen schreien und gemeinsam Richtung Tiananmen vorrücken. Einen Moment lang schaute ich verstohlen zurück, meine Herren, wir zogen eine Schleppe von ein paar hundert Leuten hinter uns her, mehr als die Hälfte waren Studenten, die von irgendwoher nach Beijing gekommen waren, um die Studentenbewegung zu unterstützen, und eine Weile keine Organisation fanden, der sie sich anschließen konnten. Daraufhin stieg unsere aufsässige Begeisterung weiter: »Gebt uns Hu Yaobang zurück! Nieder mit Deng Xiaoping! Beschützt Zhao Ziyang! Für Freiheit, für Demokratie, für Menschenrechte, die Chinesen müssen sich noch einmal erheben«. Das waren unsere Parolen, wir waren präziser und lauter als die Gongs und Trommeln bei der Nuo-Oper auf dem Land, und die Passanten blieben stehen und schlossen sich uns an. Nach etwa fünfundvierzig Minuten sahen wir den Turm über dem alten Stadttor am Tiananmen, den wir bisher nur aus der Zeitung kannten. Wir wollten uns direkt in dieses Meer von Menschen werfen, ein Mann, der aussah wie ein Studentenführer und sich selbst als Streikposten des Selbständigen Zusammenschlussen der Hochschulen bezeichnete, fragte uns, woher wir kämen. Wir antworteten einstimmig, wir sind die »Petitionäre aus Hunan«, wir seien eigens hier, um die Studentenbewegung zu unterstützen. Er sagte immer wieder, sehr gut, sehr gut, aber eure Parolen sind ein bisschen unpassend, außerdem sind sie zu radikal, auf dem Platz schreit niemand so blindwütiges Zeug. Zuerst gaben wir nicht klein bei, aber andererseits mussten wir uns nach der Großwetterlage

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