Die Kugel und das Opium
frühen Morgen des 4 . Juni kam der erste Schub herein, alles gleichermaßen heißblütige junge Leute und Studenten, alle so um die zwanzig. Am Fünften kamen immer mehr Leute herein, im Nu waren die leeren Zellen zum Bersten voll, am Ende ging niemand mehr hinein, aber es wurde weiter mit aller Gewalt hineingepresst. Ein Glück, dass der Mensch aus Fleisch gemacht ist, das gibt nach.
LIAO YIWU:
Wie viele waren in einer Zelle?
YU ZHIJIAN:
Normalerweise vierzehn, fünfzehn Mann, jetzt haben sie auf einmal über dreißig hineingedrückt. Man konnte nicht einmal mehr stehen. Offiziell verhaftet wurden wir am 15 . Juni, das eine Weile gelähmte Sicherheitssystem wurde, wie wir auch, aus seinen Träumen gerissen, augenblicklich kamen die grausamen Abläufe wieder in ihren rapiden Gang. Es wimmelte von Steckbriefen und Proklamationen, überall wurden Straßensperren errichtet und Leute festgenommen. Der rote Terror erinnerte an 2003 , als China von SARS betroffen war, auf den Straßen und Gassen war fast niemand mehr zu sehen. Zwischen der Dekontaminierung des Leibes und des Denkens ist im Grunde kein großer Unterschied.
In ungewöhnlichen Zeiten genießt die Beijinger Polizei kein Vertrauen, das Untersuchungsgefängnis und das Auffanglager in der Oststadt standen komplett unter militärischer Kontrolle. Die einfachen Soldaten, die in ihrer Isolation einer Gehirnwäsche unterzogen worden waren, waren wie die wilden Tiere, mit Zähnen und Krallen; es gab keinerlei Ordnung. Ob das nun Studenten waren oder Bürger der Stadt, alle wurden zu Tode geprügelt. Als wir inhaftiert und ins Untersuchungsgefängnis geschafft wurden, hat uns ein einfacher Soldat geführt, als führe er Hühnerküken, im Abstand von einer Elle, und warf uns in einen Militärjeep. Das hat seinen Hass noch nicht beschwichtigt, er hat mir mit dem Kolben seines Automatikgewehrs heftig gegen das Gesicht geschlagen. Augenblicklich hatte ich den Mund voller Blut und spuckte. Schau hier, mein lieber Wei, die falschen Zähne, die ich hier habe, die füllen die Lücke, die er mir damals geschlagen hat.
LIAO YIWU:
Das Untersuchungsgefängnis, in dem du warst, war das das berühmte »Schildkröten-Gebäude«?
YU ZHIJIAN:
Ja, da drin waren eine ganze Menge von den Rowdys vom 4 . Juni.
LIAO YIWU:
Galtst du auch als Rowdy?
YU ZHIJIAN:
Bis zum Feuerlegen und Blockieren von Konvois habe ich es nicht mehr geschafft, also mussten sie einen Schurken aus mir machen, der den »großen Führer angegriffen hat«. In Haus Nr. 7 vom Schildkröten-Gebäude waren wir über fünf Monate, am 10 . Juli fand in aller Heimlichkeit die Verhandlung statt, in einem Kellerraum der Mittleren Strafkammer Beijings.
LIAO YIWU:
Auch bei der Verhandlung kein Tageslicht.
YU ZHIJIAN:
Verdammt, das war Routinearbeit, die Tatumstände waren klar, es gab keine Verteidigung, selbst wenn, es gab keine Zuschauer. Es hat keine zwei Stunden gedauert, dann war alles vorbei. Die Urteilsverkündung wurde vertagt, nach einer Woche bekam ich die »Urteilsbegründung«.
LIAO YIWU:
So hopplahopp?
YU ZHIJIAN:
Was ich und Lu Decheng vor Gericht gesagt haben, habe ich längst vergessen. Am interessantesten war noch Yu Dongyue, er hat als Verteidigung vorgebracht, dass wir keinerlei politisches Motiv gehabt hätten, es sei nur um die Vollendung eines Kunstwerks gegangen.
LIAO YIWU:
Aktionskunst?
YU ZHIJIAN:
Richtig, richtig. Yu Dongyue hat von Aktionskunst gesprochen. Außerdem sei es die herausragendste Aktion des Jahrhunderts. Seine Bedeutung werde von den Menschen erst nach Jahren wirklich verstanden werden.
LIAO YIWU:
Ich denke, als eine epochemachende Polit-Pop-Aktion wird es sicher in die Geschichte der zeitgenössischen Kunst eingehen.
YU ZHIJIAN:
Hahaha! Wie sollten der Staatsanwalt und der Richter das je begreifen? Die haben voll im Nebel gestanden und sich am Ende schwarz geärgert. Außerdem fanden sie, dass Yu Dongyue sie absichtlich für dumm verkaufen wollte. Nicht einmal der Pflichtverteidiger hat das Spielchen mitgemacht und ihn ständig unterbrochen.
LIAO YIWU:
Sehr interessant. Da war die Stimmung in der Verhandlung eine Verlängerung der Kunstaktion.
YU ZHIJIAN:
Hehe.
LIAO YIWU:
Habt ihr die Folgen vorausgesehen?
YU ZHIJIAN:
Im Knast ist es langweilig, die haben zigmal unseren Fall analysiert und an den fünf Fingern ausgerechnet, ob wir mit dem Leben davonkommen oder nicht. So was wie »absichtliches Vergehen, gegen den Wind begehen«, »besondere
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