Die Kugel und das Opium
Schwere der Tat, besondere Abscheulichkeit der Umstände«, »Methode extrem irgendwas, Resultat extrem irgendwas«. Leute, die sich mit dem Strafrecht auskannten, wussten, in wessen Anklageschrift so etwas stand wie »besondere Schwere der Tat, besondere Abscheulichkeit der Umstände«, dessen Kopf hängt an einem seidenen Faden. Ach, auf den Tod warten, das Gefühl ist nicht leicht zu ertragen! Selbst Testamente habe ich ein paar Stück geschrieben, eins für meine große Schwester, eins für meinen kleinen Bruder und auch eins für meine Eltern. Wenn ich heute daran zurückdenke, war das ein wenig betulich. Der Schmerz, die Reue, ich wollte, dass sie ihren so pietätlosen Sohn vergessen, und glaubte, die Nachwelt werde uns verstehen und uns nicht verdammen.
LIAO YIWU:
Voller Selbstwidersprüche.
YU ZHIJIAN:
Heute denkt man das, morgen das. Am Ende steht man an der Schwelle des Todes, vollkommen leer, mit offenen Augen, mit geschlossenen Augen, alles gleich furchtbar. Ich habe auch geheult. Aber ich habe nichts bereut.
LIAO YIWU:
Als die Urteilsbegründung kam, hat das ein bisschen entspannt?
YU ZHIJIAN:
Ich bin sofort zusammengebrochen. In welchem Roman steht das noch? Dereinst hörte ich die Totenglocke des Tyrannen! Die Freiheit wehte heran, ich streckte die Hand aus und packte sie.
LIAO YIWU:
Vielleicht hatte Yu Dongyue recht, und diese unerhörte Kunstaktion ist vollendet.
YU ZHIJIAN:
Ich bekam lebenslänglich und habe elf Jahre und sechs Monate gesessen; Lu Decheng bekam sechzehn Jahre, wirklich abgesessen hat er acht Jahre und acht Monate, Yu Dongyue hatte zwanzig Jahre und war sechzehn Jahre und neun Monate drin, ausgerechnet er wurde als Letzter entlassen.
LIAO YIWU:
Habt ihr Berufung eingelegt?
YU ZHIJIAN:
Wir waren doch nicht lebensmüde. Ende ’ 89 sind wir nach Hunan zurückgeschickt worden, in das Gefängnis von Hengyang.
LIAO YIWU:
Seid ihr geschlagen worden? Habt ihr in einer Kleinzelle gesessen?
YU ZHIJIAN:
Yu Dongyue haben sie fürchterlich gequält. Einmal haben die Wärter ihn so zugerichtet, dass wir anderen eine Widerstandsaktion angefangen haben und drei Tage in Hungerstreik getreten sind. Aber die Gefängnisleitung hat sich geweigert, sich zu entschuldigen. In einer Kleinzelle habe ich nicht gesessen, aber vor 1992 war ich über die Hälfte der Zeit unter strenger Aufsicht. Das war der reine Horror.
LIAO YIWU:
Haben Sie sich drin was zuschulden kommen lassen?
YU ZHIJIAN:
Ich war gerade erst reingekommen und hatte noch gar keinen Boden unter den Füßen. Jedem, der es hören wollte, habe ich erzählt, wie viele Leute am 4 . Juni gestorben sind, wie tyrannisch und wie tückisch die Kommunistische Partei ist, ich habe fast ununterbrochen geredet. Ich habe noch nicht gearbeitet und voller Inbrunst mit den politischen Gefangenen die veränderte Großwetterlage diskutiert. Ich bin dafür zigmal von der Gefängnisverwaltung verwarnt worden. Ich stellte mich taub und wurde unter »strenge Aufsicht« gestellt. Ich bin fünf-, sechsmal geschlagen worden. Einmal haben mich zwei Wärter gepackt und mich mit zwei Elektroknüppeln traktiert, ich habe mich ein bisschen gewehrt, dann war ich paralysiert. Anschließend sind sie mit Fäusten und Lederstiefeln über mich her, es hat Schläge nur so gehagelt, ich habe mich nur noch auf dem Boden herumgewälzt. Von meiner ganz anständigen Kleidung hatte ich nach den Prügeln keinen Fetzen mehr am Leib. Ich lag splitterfasernackt auf dem Boden. Aber ich hatte keinen Knochen gebrochen, sie hatten noch einmal Milde walten lassen, so muss man das sehen, in den Gefängnissen von Hunan ging es in der Regel barbarischer zu.
Nachher war ich dann ein bisschen braver und habe nicht auf so verdammt stur gestellt. Aber an einem habe ich festgehalten, ich war politischer Gefangener, ich musste nicht arbeiten. Anschließend haben sie angeordnet, dass mich erfahrene Gefangene mitnehmen, um eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler herzustellen, wie sie das nannten. Meistens stand ich da und habe ihnen bei der Arbeit zugesehen, später habe ich mich in eine Ecke verzogen und mit anderen ein bisschen geplaudert.
LIAO YIWU:
Wart ihr die ganze Zeit in Hengyang?
YU ZHIJIAN:
Später wurde ich in das Gefängnis Nr. 3 in Henan verlegt, das kennt man auch als Yongheng-Gefängnis. Yu Dongyue kam in das Nr. 1 , wo sie die politischen Gefangenen konzentriert haben und das in Henan berühmt-berüchtigt ist für seine barbarischen Sitten.
Es muss 1992
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