Die Kugel und das Opium
so.
HU ZHONGXI:
Als ich ’ 98 rauskam, haben meine ehemaligen Kollegen mitbekommen, dass ich ohne Geld und Job bin, da haben sie mich und meine spätere Frau zusammengebracht. Sie ist eine Lohnarbeiterin aus Chongqing, die Mädchen in Beijing haben mich nicht angeschaut, also musste ich wohl oder übel eine von außerhalb nehmen. Als wir uns zehn Monate kannten, haben wir zwei dann geheiratet.
LIAO YIWU:
Gibt es Kinder?
HU ZHONGXI:
Eine sechs Jahre alte Tochter. Meine Frau hat dann später einen kleinen Friseurladen aufgemacht, und auch ich habe mir außerhalb Gelegenheitsarbeiten gesucht, verbissen Geld verdient, am Ende ist unser Leben dann besser geworden. Aber im Grunde ist mein Leben kaputt, mir fehlen die technischen Kenntnisse, mir fehlen die Zeugnisse, ich bin ein Kuli, wenn ich eine Weile widerwillig schleppe, machen Arme und Beine nicht mehr mit. Wenn sich die Gesellschaft einmal ändert und die Mitglieder der Kommunistischen Partei alle arbeitslos sind, wer wird dann auf uns Konterrevolutionäre auf dem Bodensatz der Gesellschaft ein Auge haben?
LIAO YIWU:
Und Geschäfte?
HU ZHONGXI:
Dazu fehlt mir das Kapital. Außerdem, wenn man beim Geschäftemachen nicht betrügt, dann ist damit auch kein Geld zu verdienen.
LIAO YIWU:
Bereuen Sie die Sache von damals?
HU ZHONGXI:
Ich bin sehr traurig darüber, wer weiß, ob wir den Tag noch erleben, an dem der 4 . Juni rehabilitiert wird? Und selbst wenn, was dann? Trotzdem, bevor ich sterbe, werde ich auf jeden Fall mit meiner Tochter sprechen, dass ihr Vater es überhaupt nicht bereut, sich die Kommunistische Partei zum Feind gemacht zu haben! Dass er sich nicht geschlagen gibt! Auch wenn ihr Vater arm ist und ein Taugenichts, so hat er sich im entscheidenden Augenblick als würdig erwiesen, er gehört zu den Menschen, die man groß schreibt.
Li Hongqi,
Straßenkämpfer
Am Nachmittag des 19 . Dezember 2005 treffe ich in dem westlichen Restaurant »Der Rote Platz« am Dongzhimenwai in Beijing den ganz in Schwarz gekleideten Li Hongqi. Ich reiche ihm einen Zettel und sage, ein Freund hätte die Verbindung hergestellt. Hm, er macht sich eine Zigarette an, sagt, ja, ja, ich habe etwas auf dem Herzen, darüber möchte ich mit jemandem sprechen.
Wir bestellen zwei Tassen billigen Kaffee, Li Hongqi nippt und stellt ihn wieder hin. Das schmeckt schlimmer als chinesische Medizin, murmelt er. Ich nehme das Tonbandgerät heraus, sage, wir können anfangen. Li Hongqi sagt, nicht, nicht, ich bin noch ganz durcheinander im Kopf. Ich sage, dann lassen Sie uns ein bisschen warten. Li Hongqi sagt wieder, nicht, nicht, sagen Sie zuerst etwas. Ich sage, was denn. Was Sie erlebt haben. Also umreiße ich mit ein paar Sätzen meine Erfahrungen mit dem 4 . Juni.
Das dauert eine ganze Weile, im Restaurant wird es langsam laut. Wir gehen nach draußen, sofort heult der Nordwind. Während wir die Köpfe einziehen, bemerkt Li Hongqi, dass ihm gar nicht kalt sei, weil das Blut in seinem Inneren koche.
Weil das Tonbandgerät ausgefallen ist, treffen Wu Wenjian und ich Li Hongqi am Nachmittag des 21 . Dezember noch einmal. Er hat gerade Feierabend, will im Schlafzimmer, das am helllichten Tag so dunkel ist, dass man die Hand nicht vor Augen sieht, seine Security-Klamotten ausziehen. Wir folgen ihm, Wu Wenjian macht mit schiefem Hals Witze: Oho, dein kleines Gesicht ist so weiß, nicht schlecht genährt. Li Hongqi brummelt etwas von: Von wegen, Scheiße, wenn man lange Nachtschicht macht, dann wird man so.
Im Schlafzimmer stehen zwei Etagenbetten. Zwei sind eine Gruppe, sagt Li. Hier der, der gerade schläft, der ist so alt wie ich, der kommt aus Xinxiang in Henan, auch Jahrgang 1968 , aber am 4 . Juni war er bei den gepanzerten Einheiten des Sondereinsatzkommandos.
Wu Wenjian sagt, echt? Hat er jemanden umgebracht?
Li Hongqi sagt, nein. Er hat sich von den Massen anstecken lassen und hat rebelliert, hat seinen Wagen stehen lassen und ist abgehauen, deshalb geht es ihm so schlecht, deshalb haust er hier mit einem Rowdy wie mir.
Wir nehmen erneut Platz. Wir bestellen zwei Schnaps und Kaffee, essen ein bisschen was, da ruft Wu Wenjian auf einmal: Das ist, als wären die Uhren zurückgestellt! Die sensible Sonne kommt schon zwischen den Hochhäusern durch und zu den Fenstern rein. Ich nehme wieder das Tonbandgerät raus, schaue nach, ob alles funktioniert, und stelle es auf den Tisch. Li Hongqi räuspert sich, der zweite Versuch, sagt er. Mein Gesicht ist schlagartig rot
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