Die Kultur der Reparatur (German Edition)
die auf der Nanoskala wirkenden Härchen an den Füßen von Geckos, die senkrecht eine Glaswand hochlaufen können, also kleben bleiben und sich doch Schritt für Schritt wieder ablösen? Fragen über Fragen, die mich abschweifen ließen von der eigentlichen Reparaturaufgabe. Sicher geht es Ihnen auch manchmal so, dass Sie sich in Gedanken verlieren und eine Assoziationskette aufbauen, spannend und tagträumerisch zugleich. Aber ich bekam dann doch die Kurve.
Ein Zahnstocher fand sich schnell, vorsichtig bestrich ich ihn mit etwas Zweikomponentenkleber. Es war der letzte Tag im Jahr 2012. Kurz vor Mitternacht. Das Problem hatte mich nicht in Ruhe gelassen, und mein Ehrgeiz war erwacht. Ich wollte an diesem Silvestertag noch einen Erfolg sehen. Ging ich mit einem solchen ins neue Jahr, würde ich es als ein Zeichen nehmen, das es mit Glückskeksen oder Bleigießresultaten allemal aufnehmen konnte, obwohl ich eigentlich nicht abergläubisch bin. Mir geht es da so wie dem berühmten Physiker Niels Bohr, von dem sein Kollege Werner Heisenberg folgende Anekdote überliefert hat: Über der Türe seines Ferienhauses sei ein Hufeisen angebracht gewesen. Danach gefragt, ob er als Physiker allen Ernstes abergläubisch sei, habe Bohr geantwortet: „Natürlich nicht; aber man sagt doch, dass es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.“ Welch eine schöne Paradoxie. Nun ja, in meinem Fall wartete ich jedenfalls auf ein gutes Zeichen für das neue Jahr, im Falle, dass die Reparatur klappen würde.
Ich wartete ca. dreißig Minuten. Der Zweikomponentenkleber musste jetzt hart sein. Mitternacht war nur noch Sekunden entfernt. Ich zog den Zahnstocher heraus, und siehe da, meine Freude war riesig, die Methode hatte geschafft, worin alle anderen Reparaturstrategien versagt hatten. Ich konnte die steckengebliebene, abgebrochene metallene Spitze zusammen mit dem Zahnstocher herausziehen. Die Raketen zischten in den dunklen Nachthimmel, die Sektkorken knallten, das neue Jahr war angebrochen. Ein Erinnerungsstück lag in meiner Hand, ich schwor mir, es sorgfältig aufzubewahren, so wie man seinen ersten verlorenen Milchzahn vorsichtig in ein kleines Kästchen packt. Beide Trophäen stehen für eine ereignisreiche Zeit, jedoch mit einem kleinen Unterschied: Nur das abgebrochene Steckerteil fordert zur Reparatur heraus.
Es war ein äußerst befriedigendes Erlebnis, das Metallstück, über das ich mir viele Stunden den Kopf zerbrochen hatte, nun „erbeutet“ zu haben, ohne das Notebook einschicken zu müssen, um das gesamte Steckerteil zu erneuern. Dann wäre es auch repariert worden, doch gänzlich ohne mein süßes Hochgefühl von Autonomie. Ich hatte mir bewiesen, dass ich zumindest in Sachen Kopfhörerstecker nicht von anderen abhängig war und die Reparatur mit dem entscheidenden Tipp selbst durchführen konnte.
Exkurs: Auf einer einsamen Insel – Wenn Reparieren lebenswichtig wird
Seit vielen Jahren mache ich ein Gedankenspiel in immer neuen Varianten: Im Grunde ist es ein Robinson-Crusoe-Spiel: Wir sind auf einer Insel gelandet und müssen das Leben neu organisieren, erst mal natürlich die elementaren Bedürfnisse wie Wohnen und Essen befriedigen. Dabei müssen wir als Gruppe in der Lage sein, Hilfsmittel und Techniken neu entstehen zu lassen, die uns bislang selbstverständlich zur Verfügung standen. Wie mache ich ein Feuer ohne ein Feuerzeug?
Wer in einer geselligen Runde nachfragt, wie man eigentlich ein Feuer ohne Zündhölzer in Gang setzt, wird meist Schweigen ernten. Leserinnen von mittelalterlichen Romanen oder Besucher von Mineralienmessen werden womöglich eine Antwort parat haben: „Dazu braucht man einen Feuerstein.“ Genau. Unseren Nachbarskindern schenke ich immer wieder welche und zeige ihnen, wie man aus dem Stein Funken heraushauen kann, wenn man ihn nur an ein Stück Metall schlägt, und darüber Watte hält, die sich dann entzündet. Computerkids erstaunt immer sehr, was da passiert. Manchmal fangen sie selber Feuer, wollen wieder in der realen Welt spielen, nicht nur in der virtuellen. Man muss nur verstehen, wie man dieses Feuer entfachen kann. Wer heute mit der U-Bahn zur Arbeit fährt, der muss nicht in der Lage sein, mit einem steinzeitlichen Feuerzeug einen Ofen anzuzünden. Trotzdem ist es nicht verkehrt, dieses Wissen zu haben. Wir Menschen haben heute viel zu wenig Ahnung von den elementaren naturwissenschaftlich-technischen Kulturtechniken, die die Grundlagen für die Entwicklung unser
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