Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Ley
Vom Netzwerk:
Bindung eines Säuglings an die Mutter bzw. an die erste Bezugsperson in den ersten sechs Monaten und die Fähigkeit, nach diesen ersten Monaten Trennungsangst zu entwickeln, bestätigen das Zusammengehören von Bindung und Trennung.
    Trennungsangst beim Erwachsenen manifestiert sich im Festhalten am Gewohnten, im Nicht-loslassen-Wollen, im Jammern und Klagen über eine Not, die ausschließlich im Hier und Jetzt lokalisiert wird. Bereits eine antizipierte, also vorgestellte Trennung kann Angst, ja Panik auslösen. Im Beispiel von Selma ist deutlich geworden, in welchem Ausmaß ihr Erleben von realer, schmerzhafter Trennung im Kindesalter spätere Trennungsängste zur Folge hatte, zumal ihr als Kind keine Gelegenheit geboten wurde, um ihre Mutter zu trauern. Im obigen Beispiel von Anita äußern sich Angst und Panik in der übergroßen, blockierenden Trennungsambivalenz.
    Angst als ein menschlicher Affekt ist vom ersten bis zum letzten Atemzug eines Menschen präsent. Wesentlich ist der Umgang mit Angst, der sich über die Jahre hin verändernkann. Für den Umgang mit Angst ist die psychische Regulierung von Ambivalenz entscheidend. Angst hat eine beschützende und dementsprechend auch entwicklungsfördernde Funktion, weil sie drohende innere und äußere Gefahren signalisiert. Freud hat von der »gemeinen Angst« gesprochen.
    Dazu schreibt Rilke:

    »Wir sind ganz angstallein,
    haben nur aneinander Halt,
    jedes Wort wird wie ein Wald
    vor unserm Wandern sein.
    Unser Wille ist nur der Wind
    der uns drängt und dreht;
    weil wir selber die Sehnsucht sind,
    die in Blüten steht«. 28

    Angst kann zu einer Gefahr werden, wenn sie zu intensiv, nicht mehr steuerbar und nicht mehr handhabbar ist. Sie kann eine panikartige Qualität erhalten, zum Kontrollverlust und zu weiteren negativen Reaktionen, Widerstand, Abwehr und Vermeidung führen. Diffuse Ängste, die keine sinnstiftende Bedeutung erkennen lassen und nicht verstanden werden können, führen zu Hilflosigkeit und Verzweiflung. Angst ist ein spezifisches und intensives Begleitsymptom aller psychischen Erkrankungen. In solchen Fällen wird jedes antizipierte oder reale Ereignis zu einem Angsterleben.
    Angst will Trennung verhindern. Überstürztes Weggehen, schnelles Loslassen, Sich-Freimachen, Wegwerfen und Flüchten sind Verhaltensweisen, durch die das passive Erleiden von Trennungsangst, auch von Verlustgefühlen und Trauer, vermieden wird. In der selbstgesteuerten Trennung bleibt man aktiv. Nur wenn ein Mensch die Trennungsangst bzw. ihre Vermeidung spürt und sie sich bewusstmacht, kann er damit umgehen. Ein gewisses erträgliches Maß an Angst gehört schon zu der Erwägung einer Trennung.
    Wird die normale, gesunde Trennungsangst akzeptiert – beispielsweise bei der Beendigung einer Arbeitsstelle, einesProjektes, einer Beziehung, einer Therapie –, so kann sich ein Trennungswunsch erst manifestieren. Für geraume Zeit kann das Pendel zwischen Angst und Wunsch hin- und herschwingen, bis die endgültige Entscheidung bejaht wird. In dieser Phase wachsen die Fähigkeiten, mit Veränderungen, neuen Einsichten, Widersprüchen und Rückschlägen umzugehen und die Angst allmählich zu überwinden. Das Anerkennen und Aushalten von widersprüchlichen Gefühlen fördert die Trennungsfähigkeit. Auch hier gibt es eine normale Ambivalenz, die erst dann pathologisch wird, wenn sie als sehr intensiv und belastend erlebt wird und übermäßig lange dauert.
    Rahel, 45-jährig, möchte eine Psychotherapie beginnen. Sie hat zwei Söhne von zwei Vätern, die sie allein erzieht. Sie leidet seit Jahren unter Panikattacken, die sie unvermittelt, tags und nachts, überfallen und ihr Leben angst- und leidvoll machen. Zurzeit ist sie arbeitslos, weil sie es an der jeweiligen Arbeitsstelle nie lange aushält.
    Es folgt eine langwierige Therapie. Rahel ist sehr gesprächig und versucht um jeden Preis, der Therapeutin keine Gelegenheit zu geben, einzugreifen, nachzufragen oder gar eine Frage zu stellen. Sie spricht und spricht und geht – und kommt wieder. Sie will die Panikattacken medikamentös in den Griff bekommen und redet unaufhörlich über Medikamente. Ein Versuch der Therapeutin, diese Situation als letztlich für beide unbefriedigend zu erklären, wird abgeschmettert. Rahel muss die Kontrolle bewahren. Sie kann nicht über ihre Gefühle reden.
    Dann kommt Rahel nach einem guten Jahr in eine Therapiesitzung und legt los. Eine ganze Sitzung lang beschimpft sie die Therapeutin,

Weitere Kostenlose Bücher