Die Kunst des guten Beendens
Platz greifen und Schuldgefühle verursachen kann (Introjekt). Die Schuldgefühle sind jene des Gewalttäters, der Gewalttäterin, die, wenn Letztere sie sich nicht eingestehen, aufs Kind übergehen. Traumatisierung erzeugt fatalerweise immer schwere, einschränkende Schuldgefühle. Dies betrifft auch frühe Verlusterfahrungen (Tod eines Elternteils oder Geschwisters). Das traumatische Schuldgefühl mischt sich mit der Überlebensschuld, der Schuld, weiterzuleben.
Die erwähnten Formen von Schuldgefühlen lassen sich nicht trennscharf unterscheiden. Es gibt Überlagerungen, Überschneidungen und Kumulationen. Es wurde oben betont, dass zwischen Schuldgefühlen und realer Schuld (Schuldbewusstsein) zu unterscheiden ist. Es stellt sich die wichtige Frage, ob ein Kind in seinen ersten Jahren real schuldig werden kann. Ich glaube nicht. Für schuldig erklärt zu werden, kann, auch wenn es nicht berechtigt ist, ebenfalls zu Schuldgefühlen führen. »Wegen dir konnte ich nicht mehr berufstätig sein.« Da kann doch ein Kind nichts dafür. Trotzdem fühlt es sich notgedrungen schuldig, denn es hat seiner Mutter eine Möglichkeit verwehrt. »Wegen deiner Geburt … war das und das nicht möglich.«
Es ist meist erst im Erwachsenenalter möglich, im Bearbeiten der Erinnerungen zwischen Schuldgefühlen und delegierter realer Schuld zu differenzieren. Dies ist wichtig. Diese Unterscheidung kann den Weg freimachen für einen Umgang mit verhängten Schuldgefühlen, was die Selbstachtung nach und nach zu stärken vermag. Kein Kind ist schuldig, weil es auf die Welt gekommen ist. Doch die erwachsene Person ist dafür verantwortlich, wie sie mit den Schuldgefühlen umgeht. Dies ist in vielen Therapien ein brennendes Thema.
Jede psychische Erkrankung – wenn es so weit kommt – hat mit (unbewussten) Schuldgefühlen zu tun, die einschränkend, verfolgend und quälerisch wirken. Sie verfolgen auch wichtige Regulationsfunktionen: Die Aggression gegen das geliebte Objekt wird damit unbewusst im Zaum gehalten. Das Kind darf zwar weiterleben, muss sich aber dabei schuldig fühlen. Das ist eine riesige Belastung für ein Kind und den später erwachsenen Menschen.
Da Schuldgefühle quälend sind, wird oft versucht, sie abzuwehren und auszuschalten. Dies kann nicht gelingen. Schuldgefühle bedürfen des Ausdrucks und der Verarbeitung – im besten Fall im Gespräch mit einem adäquaten Gegenüber, einem verlässlichen Gesprächspartner, der zuhört und das Erzählte aushält. Erst die Trauer ermöglicht das Annehmen dessen, was eben war und nicht zu ändern ist. Doch der Blick zurück kann versöhnlicher werden.
Die entsprechenden Trauerprozesse finden nach meiner Erfahrung in Adoleszenz und Erwachsenenalter statt, wenn ein Mensch versucht, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Trennungsängste und Trennungskonflikte treten dann als erneuter Widerstand gegen und als erneute Abwehr von Trennung zutage. Dies kann in der Adoleszenz geschehen, bei Todesfällen, bei der Trennung einer Liebesbeziehung, im Alter. Solche tiefgreifenden Ereignisse rühren immer an frühere Verletzungen, Ängste und Schuldgefühle. Wenn das erkannt wird, ist der Moment gekommen, sich ihnen zu stellen.
Es kann aber auch sein, dass die Erinnerung an frühere Erfahrungen fehlt, weil Angst, Hilflosigkeit, Entbehrung, Verlassenheit und Qual zu groß sind. Schlimme gefühlsmäßige Erinnerungen aus den frühesten Jahren entziehen sich der Sprache und damit der sogenannten Symbolisierung. Da diese frühen schlimmen Gefühle nicht benannt und zugeordnet werden können, werden sie wortlos in Körper und Seele gespeichert. In Situationen, die den früheren ähneln, werden sie wieder erweckt und als aktuelle, gegenwärtige Gefühle erlebt – ohne einen Schlüssel zum Verstehen zu liefern. Ein Verstehen müsste sprachlich stattfinden, doch die Ursache liegt im vorsprachlichen (vorsymbolischen) sehr frühen Erleben. Einzig die Angst verweist auf die frühere Hilflosigkeit. Vermeintliche oder reale eigene Schwächen, eigene Schuld, eigenes Versagen gehören ebenso dazu wie die vermeintliche oder reale Stärke der früheren und heutigen verfolgenden und quälenden Objekte und Gegebenheiten (ein Chef, eine Arbeitssituation, ein Partner). Alles Leiden ist aktuell, jetzt, heute. Doch es baut auf einem früheren Leiden auf, das noch nicht erinnert und erkannt und noch nicht betrauert worden ist.
Manchmal ist das ein Stillstand der Therapie, wo die Arbeit vorläufig
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