Die Kunst des guten Beendens
gegriffen. Sie hat kein privates Telefon mehr. Angeblich wegen ihrer Mutter.
Anja hat in ihrer frühesten Kindheit verschiedene schwere Verluste und Abbrüche von Beziehungen erlebt. Sie wiederholt ihre Erfahrungen und hat panische Angst und auch großen Schrecken vor jeder Veränderung, jedem Umzug, jedem drohenden Verlust.
Anja soll ein schüchternes, unsicheres Kind gewesen sein, das immer wieder durch enorme Wutausbrüche auffiel. Ausbrüche, die sich niemand erklären konnte. Vor jeder Veränderung in ihrem Kinderleben hatte sie panische Angst. Das setzte sich in der Pubertät fort. Anja ging früh von zu Hause weg.
Die ganzen Jahrzehnte hatten eine Flucht vor den Zugriffen der Mutter bedeutet. Wie es wohl wäre, wenn diese Mutter einmal mit der Tochter in die Therapie käme; würde sie kommen? So fragt die Therapeutin. Anja ist überzeugt, dass sie käme. Und sie ist bereit, sie zu fragen.
Und die Mutter kommt, mit ihrer Tochter. Kein Ungeheuer,sondern eine ältere, sympathische Frau, die seit der Aufgabe des Geschäftes und durch die Krankheit ihres Mann gelernt hat, dass nicht alles mit eisernem Willen und großer Kraft zu bewältigen ist. Sie begreift, was sie ihrer Tochter in deren frühesten Jahren ohne böse Absicht, ohne Hintergedanken zugefügt hat. Sie hat es damals nicht besser gekonnt. Sie war ahnungslos, dass sich solche Abbrüche und viele Wechsel für ein kleines Kind traumatisch auswirken. Sie weint. Sie entschuldigt sich bei der Tochter. Sie erkennt im Gespräch, dass sie in ihrer Tochter deren gewisse Ähnlichkeiten mit ihrem Mann bekämpft hat. Eine wichtige, späte Einsicht.
Die Tochter fühlt sich durch dieses Geständnis nicht erlöst. Sie wagt nicht, gegenüber der Mutter ihre Bedürfnisse zu äußern, beispielsweise ihren Wunsch auszusprechen, die Mutter in den nächsten Monaten nicht zu sehen. Als sie es schließlich schafft, lenkt die Mutter ein. Doch noch während der vereinbarten Stillhaltezeit wirbt die Mutter mit sehr langen und viel zu persönlichen Briefen um die Tochter. Und Anja schafft es, ihrer Mutter freundlich mitzuteilen, dass sie sich an die Abmachung halten möchte. Sie möchte eigentlich nur eines: als Anja wahrgenommen und anerkannt werden.
Die Mutter antwortet mit einer schönen Kunstkarte und den Worten, sie habe verstanden und sie müsse noch viel lernen.
Versöhnung – es ist nie zu Ende
Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir, wie der Winter, der eben geht. Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
Rainer Maria Rilke
Eine Frau in den mittleren Jahren, Isabelle, erzählt, wie ihr Mann sie vor vier Jahren unvermittelt verlassen hat. Er hatte eine andere Frau kennengelernt. Isabelle verlor den Boden unter den Füßen, war verzweifelt, unglücklich und hatte ganz vielekörperliche Krankheitssymptome. Ihr Hausarzt diagnostizierte Spannung und Stress – nicht loslassen können, einen Mann immer noch lieben, der sie schmählich verlassen hatte. Isabelle ging in eine Therapie und konnte endlich annehmen, dass sie nun allein lebte. Sie fühlte wieder Boden unter den Füßen. Ab und zu packte sie die Eifersucht auf die neue Frau ihres ehemaligen Mannes. Aber auch damit konnte sie mit der Zeit besser umgehen. Und doch fehlte ihr noch etwas: ein versöhnliches und versöhntes Beenden mit ihrem ehemaligen Mann. Sie schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihn um ein gemeinsames Ritual bittet. Ein Ritual der versöhnlichen Beendens, jetzt, wo sie wieder ins Leben gefunden hat.
Ist es ein Brief, den sie abschicken will? Oder ist es ein Brief, den sie für sich geschrieben hat? Oder muss sie weitere Fassungen des Briefes schreiben, damit ihr klarer wird, was sie möchte? Es irritiert sie, dass sie sich vier Jahre nach dem Weggang ihres Mannes noch etwas von ihm wünscht; doch der Wunsch ist da. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Eigentlich weiß Isabelle gar nicht, ob sie ihren Mann noch kennt. Ob sie sich in einem Versöhnungsritual mit einem Mann treffen will, der längst ein anderer geworden ist. Es sind schwierige Fragen, die sie umtreiben.
Auf einmal kommt ihr ein Gedanke, den sie noch nie gehabt hat. Es ist eine Erinnerung an ihren Vater, bei dem sie über die ganze Kindheit und Jugend um Liebe und Zuneigung gekämpft hat. Ihr Vater hat ihr nicht geben wollen oder können, was sie so dringend gebraucht hätte. Ist es jetzt wieder so? Wiederholt sie einen Kampf aus ihrer Kindheit? Einen Kampf, den
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