Die Kunst des guten Beendens
hatte. Das teilte er ihm in langen Briefen mit. Und bei diesem einsamen, schmerzvollen Schreiben tauchten erstmals Trauergefühle auf: Trauer um das, was geschehen war; Trauer um das, was nicht geschehen war.
Nun fühlte er sich bereit, sich mit seinem inneren Vater zu versöhnen. Er ging dazu hinaus aufs Feld, wo sie zusammen gearbeitet hatten, und sprach die Worte laut vor sich hin. Er erzählte seinem Vater auf dem Feld, dass er heute Mitgefühl habe für dessen Leiden und dass er, sein Sohn, sich nicht länger selbst vergiften und quälen wolle mit den früheren Demütigungen und Aggressionen. Er wolle nicht ein Leben lang unglücklich an ihn, seinen Vater, gekettet sein und verzeihe ihm um seiner selbst willen und seiner Frau und seinem Sohn zuliebe. Daniel fühlte, dass er nur durch diese Versöhnung mit seinem inneren Vater sich selbst und seine Familie liebevoller und zugewandter behandeln konnte. Zum Abschluss machte er ein Feuer und verbrannte alle Briefe, die er auf seinem Heilungsweg geschrieben hatte. Das war sein eigenes Trauer- und Versöhnungsritual.
Vielleicht hätte es Daniel als Kind verstanden, wenn ihm gesagt worden wäre, dass sein Vater in seiner eigenen Kindheit kleingemacht, geschlagen und gedemütigt worden war. Dann hätte er verstehen können, dass Wut und Demütigungen ihn zwar trafen, aber nicht, weil er ein böses oder faules Kind war. Die Schläge, die er bekam, waren die Rache des Vaters für das Unglück, das ihm selbst als Kind zugefügt worden war. Es war wohl die einzige Möglichkeit des Vaters gewesen, seine ständige Wut mitzuteilen. Und ohne es zu wollen, hatte sich dasselbe unselige Muster bei Daniel und seinem Sohn wiederholt.
Daniel hat die Wiederholung mit enormem Einsatz unterbrechen können. Um der Liebe willen. Dem Leben zuliebe. Das wird auch im folgenden Beispiel klar.
»Mit meinen 52 Jahren fühle ich, dass ich jedem Menschen in meinem Leben verzeihen und jeden ehren kann. Heute fühle ich einen großen inneren Frieden in mir.« Das waren die Worte des Rocksängers Sting in einem Fernsehinterview. Sie ließen mich aufhorchen: Wie hat er das geschafft? Ich erinnere mich gut an diesen Augenblick. Da saß dieser blonde, immer leicht zerzauste Sänger mit seinem ernsten, hageren Gesicht ruhig in seinem Sessel und sprach große Worte gelassen aus. In mir breitete sichbei seinen Worten ein fühlbarer Friede aus. Zugleich erfüllte mich Freude darüber, dass ein Mensch sich mit seiner Vergangenheit und Gegenwart versöhnen kann. Sting kam dann ausführlich auf sein bisheriges, nicht leichtes Leben zu sprechen. Er scheute sich nicht davor, zu erzählen, wie er lange Jahre mit Enttäuschungen und Verbitterungen verbracht hatte. Liebesbeziehungen und Freundschaften waren daran zugrunde gegangen.
Seine Vergangenheit war eine Fessel um sein Herz.
Seine Eltern hatten sich getrennt, nachdem die Mutter bereits seit vielen Jahren einen Liebhaber hatte. Dieses Liebesverhältnis hatte Sting in flagranti beobachtet, als er sechs Jahre alt war. Er hatte nicht verstanden, was los war, aber gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Stings Vater liebte seine Frau ein Leben lang, lebte nach der Scheidung allein und starb kurz nach ihrem frühen Krebstod. Sting konnte seiner Mutter nicht verzeihen, dass sie sich vom Vater getrennt hatte, um ihr weiteres Leben mit ihrem Liebhaber zu verbringen. Als seine Eltern kurz nacheinander im Sterben lagen, beide erst in ihren Fünfzigern, hatte er den Wunsch, sie nochmals mit seiner Frau und seinen Kindern zu besuchen. Er war sich seiner Verletzungen bewusst geworden, hatte Wut und Hass auf seine Eltern zugelassen und sehnte sich nach innerem Frieden. Er wollte seine Verantwortung als Sohn den Eltern gegenüber bewusst übernehmen. Das bedeutete, sie in ihrem Leiden anzuerkennen.
Nach einem bisherigen Leben voller Ressentiments fühlte Sting am Bett der sterbenden Mutter ihr lebenslanges Leiden, das sie nun auch körperlich zerstörte. Aufgrund der Einsichten in sein eigenes Leben und Leiden in Beziehungen war Sting nun fähig, ihr von Mensch zu Mensch zu begegnen. Er fühlte sich nicht länger als ihr Richter und auch nicht mehr als Anwalt seines Vaters. »Ich liebe dich, Mum, ich habe dich immer geliebt«, waren Stings letzte Worte an sie. Beide lächelten und weinten.
Wenig später stand er am Sterbebett seines Vaters. Er ergriff dessen Hände und entdeckte, dass er dieselben Hände hatte. Als er es ihm sagte, meinte sein Vater: »Ja, mein Sohn,
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