Die Kunst des guten Beendens
sie damals verloren hat. Sie könnte ihn auch jetzt wieder verlieren.
Doch da spürt sie ihre Lebensgeister. Sie will sich nicht noch einmal an die Verliererrolle klammern. Auf dem Markt sieht sie von weitem die Freundin ihres Mannes. Das gibt ihr den Mut, das gewünschte Versöhnungsritual mit ihrem ehemaligen Mann in ihren Gedanken umzugestalten. Sie wird es für sich tun, ohne ihn. Einmal mehr. Sie will mit ein paar guten Freundinnen ein Fest zur »Versöhnung mit dem Leben« feiern.
Versöhnung mit sich selbst und die Trauer um die Vergangenheit
Konflikte und unausgesöhnte Beziehungen üben Macht auf einen aus und fesseln an die Vergangenheit. Sie drängen alte, schmerzvolle Bilder auf und rauben den inneren Frieden. Es scheint, als gäbe es kein Entrinnen und keine Erlösung. Die Seele hat keine Ruhe, bis man/frau sich mit alten Verletzungen, Aggressionen, Enttäuschungen, unerfüllten Wünschen und ungestillten Sehnsüchten auseinandergesetzt hat.
Es taucht die Frage auf, ob wir uns heute jenen Begegnungen und Auseinandersetzungen stellen können, die damals nicht möglich waren. Mit den folgenden Lebensgeschichten möchte ich zur eigenen Reise einladen, wohl wissend, dass der eigene Weg selbst zu gehen ist. Interesse und Mitgefühl sind eine hilfreiche Begleitung dabei. Es geht um geschwisterliches Lernen. Wir können von unseren Lebensgeschwistern lernen. 42
Daniel, ältester Sohn eines als cholerisch und despotisch bezeichneten Vaters, erzählt, wie er ein Leben lang versucht hat, dem Vater zu gefallen. Nichts war genug. Er arbeitete hart auf dem Bauernhof, leistete Zusatzarbeiten – es genügte nicht. Der Vater schlug ihn, und Daniel durfte keine Gefühle zeigen. Als er acht Jahre alt war, wurde er von einem Traktor verletzt. Der Vater verbot ihm zu weinen und hänselte ihn als »kleines Mädchen«. Daniel sank schluchzend zu Boden und der Vater stieß ihn mit seinen Stiefeln. Daniel lernte, hart zu werden. Er wollte seinem Vater zeigen, dass er ein Mann war. Kurz vor seiner Heirat ereignete sich wieder ein Zwischenfall mit dem Traktor. Der Vater fuhr ihn fast zu Tode. Daniel war außer sich vor Wut, für Jahre. Dann starb der Vater, ohne Daniel je gezeigt zu haben, dass er ihn liebte und dass sein Sohn ein guter Mann war. Daniel war gefangen in seiner Wut und in seinem Hass. Der Tod des Vaters hatte ihm die Möglichkeit geraubt, je Anerkennung zu erhalten und endlich Frieden zu schließen. Die Wut wurde eingekapselt, damit sie Daniel nicht ständig schmerzte.
Daniel lebte mit seiner Frau und seinem Sohn. Seine Frau war sehr besorgt, wie ihr Mann den dreijährigen Sohn behandelte. Er erlaubte ihm nicht, ein Kind zu sein und seine Gefühle zu zeigen. Oft schimpfte er mit ihm unmäßig über Kleinigkeiten. Der Sohn fürchtete seinen Vater und begann sich von ihm zurückzuziehen. Die Frau bat Daniel, in einer Therapie Hilfe zu suchen.
Dort ging es darum, die erlittenen Verletzungen nochmals anzuschauen. Das tat weh. Daniel spürte, dass sein Vater ihn in einem Gefängnis von Hass und Wut eingesperrt hatte, und er hatte es zugelassen. Nochmals erlebte er alle die kränkenden Situationen und seine Erniedrigung, Schmach und Wut. Ohne Begleitung hätte er es nie gewagt, nochmals in seine Vergangenheit »einzusteigen«. Er fürchtete seine Gefühle. Aber er steckte sie nicht mehr weg. Nach langen Phasen der Wut und des Hasses konnte er endlich auch seinen eigenen Anteil in dieser unglücklichen Beziehung zum Vater verstehen. Nun folgte ein langer Trauerprozess um alles Erlittene. Daniel begann zu spüren, dass er seine eigene Kraft zurückhaben wollte, für sich und seine Familie. Er erkannte, was er unbewusst seinem Sohn angetan hatte, und wünschte sich zutiefst eine gute Beziehung zu ihm. Daniel verstand endlich, dass er seinen Vater nicht brauchte, um sich mit ihm zu versöhnen. Die Versöhnung, die anstand, war Daniels eigene mit sich selbst.
Es ging weiter darum, alles das bei sich selbst anzuerkennen, was sein Vater nicht gewürdigt hatte: seinen Einsatz, seine Leistungen, seine Arbeit. Er schrieb sich selbst Briefe, in denen stand, dass er ein guter Mann sei, dass er Gefühle haben und ein glückliches, harmonisches Leben führen dürfe. So erfuhr Daniel, dass er sich heute selbst das zugestehen und geben konnte, was er früher vom Vater erwartet hatte. Er fühlte dabei, dass wahrscheinlich sein Vater sein Leben lang ebenso gefangen war in Hass und Wut, wie Daniel sein bisheriges Leben verbracht
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