Die Kunst des guten Beendens
aber du hast die deinen besser gebraucht als ich meine«. Sting konntesich nicht erinnern, dass sein Vater ihm je ein solches Kompliment gemacht hatte und ihn, den Sohn, gewürdigt, ja anerkannt hatte mit dem, was er war, was er tat, was er erreicht hatte und was es ihn gekostet hatte. Der Vater hatte bis zu diesem letzten Augenblick gewartet. Sting küsste seinen Vater auf die Stirn und flüsterte ihm zu, dass er ein guter Mann sei und dass er, sein Sohn, ihn liebe.
Sting ging weder zur Beerdigung seiner Mutter noch zu der seines Vaters. Er fand fadenscheinige Ausreden, dass die Massenmedien diese Abschiede vermarkten würden und dass er sich ja noch von den lebenden Eltern verabschiedet hatte.
Doch das hatte seinen Preis. Er konnte nicht richtig trauern und trug den Schmerz Jahre mit sich herum. Er fühlte sich innerlich gebrochen, auch wenn seine Karriere äußerlich auf dem Höhepunkt war. In einer Drogenerfahrung fühlte er, dass seine Halluzinationen Alpträume waren; er fühlte sich von Geistern umgeben. Neben ihm sitzend, hatte seine Frau gleichzeitig eine friedvolle, tief beglückende innere Reise gemacht. Sting fühlte, dass er noch ein Stück Entwicklung anpacken musste. Die Verabschiedung von seinen Eltern stand an.
Da wurde auf einem seiner Landsitze bei Ausgrabungsarbeiten für einen künstlichen See ein Frauenskelett ausgegraben, offenbar das Opfer eines Ritualmordes im Mittelalter. Das beschäftigte Sting zutiefst. Er und seine Familie organisierten eine würdige Beerdigung, und Sting wurde klar, dass er mit diesem Ritual für die junge Frau auch seine Eltern beerdigte. Nun konnte er endlich in Frieden Abschied nehmen. Der Bann war gebrochen. Solange das verletzte und verwirrte Kind in ihm dominierte hatte, fühlte er sich von Geistern umgeben. Er hatte Angst, fühlte Ärger, empfand Rache. Diese Gefühle flossen wie Gift in alle seine nahen Beziehungen. Es bedurfte mehr als eines Anlaufs, um sich selber und seinen Eltern verzeihen zu können.
Dann wurde es möglich, jenen Satz auszusprechen, dass er in seinem jetzigen Alter jedem Menschen verzeihen und jeden Menschen ehren könne.
Beenden ist nie im Leben ein endgültiges Beenden. Stings Abschied von Mutter und Vater am Sterbebett war ein vorläufiges Beenden in Liebe und Dankbarkeit. Das Leben geht weiter und damit das Fortleben der Erinnerungen. Neue Schritte des Beendens würden notwendig werden. Und manchmal spielt einem das Leben einen Ball zu, den man auffangen kann: das ausgegrabene Frauenskelett und Stings anschließendes Versöhnungsritual mit seinen Eltern. Das Leben erfordert immer wieder neue Zugänge zu Trauer, Versöhnung und damit zum Beenden.
Die Möglichkeit zu trauern und jene, sich zu versöhnen, mit sich selbst und dem oder den anderen: sie sind die wesentlichen Zugangsmöglichkeiten zu einem sinnstiftenden, guten Beenden. Sie sind dann angezeigt, wenn mit den Ambivalenzen, den Ängsten und den Schuldgefühlen ein Umgang gefunden werden konnte. Und sowohl Trauer als auch Versöhnung bieten eine weitere Möglichkeit, früheres Unerledigtes nochmals anzuschauen. Und dann zu beenden.
4. Panorama des Beendens
Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehn.
Rainer Maria Rilke
Auf einem Berggipfel spricht man gern vom Panorama, das einem dort erscheint. Weitblick und Tiefblick haben etwas Verlockendes. Man kann im besten Fall rundum blicken, in alle Himmelsrichtungen. Mit dem Panorama des Beendens ist es so, dass wir mit dem bisherigen Aufstieg und mit dem Proviant in unserem Rucksack – der bisherige Text – eine Aussicht verdient haben. Nämlich die Aussicht auf alle möglichen Formen des Beendens: notwendig, fällig, erzwungen, freiwillig, ersehnt. Vorläufig, unwiderruflich. Immer wieder neu.
Das erste Thema dieses neuen Abschnittes betrifft das unerwartet notwendig werdende Beenden durch einen Unfall, eine Krankheit, einen Verlust, eine Ausgrenzung. Es geht um den Umgang mit Schicksalsschlägen, die ein Beenden erzwingen.
Das zweite Thema behandelt die unaufhaltsame Beschleunigung unseres Lebens und die Veränderungen in Arbeitswelt und Familie. Diese rasanten Entwicklungen bringen neue, oft unerwünschte Formen des Beendens mit sich.
Der dritte Abschnitt öffnet den Blick auf Formen des Beendens, die das tägliche professionelle Handeln erfordert.
Viertens möchte ich darstellen, was ich in den Jahren in Südafrika hinsichtlich des Beendens gelernt habe. Ich denke, dass es für
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