Die Kunst des guten Beendens
Geben
Hat sie uns einmal gewünscht.
Ihre Wünsche drehen wie Kreisel im Schwung,
Ihre Farben glitzern,
Ihr Vermächtnis lebt.
Versöhnung und Beenden
Aber schade ist’s doch, dass man sterben muss,
wenn man gerade begriffen hat, wie man leben möchte.
Immanuel Kant
Eine persönliche Einleitung
Im Sommer 2005 war mein Buch Versöhnung mit den Eltern. Wege zur inneren Freiheit erschienen. Es ist ein Werk, das ich in Südafrika zu schreiben begonnen hatte und größtenteils in der Schweiz fertigstellte. Versöhnung war das Thema gewesen, das mich bei meinem dreijährigen Aufenthalt im Nach-Apartheid-Südafrika nachhaltig beschäftigt hatte und es noch tut. Die Notwendigkeit zur Versöhnung hatte ich damals auch als ein persönliches Thema von mir erkannt. Und ich hatte eine Ahnung davon, dass Versöhnung auch in Europa viele Menschen beschäftigt. Dann kam die große Überraschung. Zu diesem Zeitpunkt hatten gleich drei Schweizer Autorinnen, Psychotherapeutinnen, alle um die sechzig, zum Thema Versöhnung publiziert: Katrin Wiederkehr, Verena Kast und ich. 41 Wir kannten einander, hatten aber, gottlob, nicht von unseren Schreibprojekten gewusst. Das Echo dieser Publikationen war überraschend und überwältigend groß.
Noch heute kommen einzelne Menschen, Paare, Geschwister, Töchter und Mütter, Söhne und Väter, Familien in meine Praxis, weil sie sich versöhnen möchten. Mit sich selbst, mit dem und den wichtigen anderen. Es kommen immer weitere Anfragen für Vorträge, für Seminare. Das Thema ist aktuell. Das Leiden am Unversöhnten ist groß, wie ich immer wieder feststelle.
Als ich begann, das Thema des Beendens zu skizzieren, merkte ich, dass Beenden und Versöhnung viele Gemeinsamkeiten haben. Der Schritt zur Versöhnung und der Schritt dazu, etwas zu beenden, erfordert jeweils gleichermaßen eine Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, der viel Zögern,Abwägen, Aufschieben, Leiden, Bangen, Fragen und Hoffen vorausgehen – nicht zuletzt die Hoffnung, dass es einen leichteren Weg geben könnte. Heute denke ich, dass der Weg der Versöhnung einfacher ist als jener, im Unversöhnten weiter zu verharren. Versöhnung ist tatsächlich ein Weg zur inneren Freiheit.
Die Versöhnung mit sich selbst ist der Schlüssel zu dieser inneren Freiheit. Die Versöhnung mit sich selbst ist der erste Schritt. Erst danach wird es möglich, sich mit anderen zu versöhnen. Noch heute glaube ich, entschiedener als zuvor, dass auch eine Versöhnung möglich ist, wenn der oder die andere die Hand dazu nicht reichen will oder nicht (mehr) reichen kann. Diese Gewissheit hat damals mit dem Erleben von Nelson Mandela, dem großen südafrikanischen Versöhner, begonnen. Sie ist heute angereichert und vertieft durch viele Erfahrungen, die ich seither in Versöhnungsprozessen gemacht habe.
Wenn ein Mensch sich tiefgreifend verändert, dann kommen die Menschen, die mit ihm zusammen sind, in eine Art »Zugzwang«, in eine Situation, in der ihr bisheriges Verhalten nicht mehr zu greifen vermag – es sei denn, sie üben Macht und Gewalt aus. An dieser Stelle liegt die Chance, dass ein Mensch, der sich mit sich selbst und mit dem anderen versöhnt, einen versöhnlichen Einfluss auszuüben vermag.
Versöhnung, um eine Beziehung nicht beenden zu müssen
Nicht in jedem Fall ist Beenden das Richtige und Notwendige, das ansteht, wenn eine Beziehung in einer Krise steckt. Mit anderen Worten: Wenn Versöhnung möglich wird, kann eine Beziehung weitergehen. Dazu ist das Beenden des immer wieder vorkommenden Streitverhaltens notwendig, das die Beziehung auf die Dauer zu zerstören droht.
Ein Beispiel: Adrian und Anna haben einen mehrjährigen Auslandaufenthalt in Australien hinter sich. Einmal in diesenJahren hat Anna zu Adrian gesagt, sie wisse nicht, wo er in seinem Verhältnis zur unterdrückten, eingeborenen Bevölkerung der Aborigines stehe. Anna, die zuvor Jahre in Afrika gelebt hatte, lief jedes Mal Sturm gegen alle Formen der Unterdrückung einer schwarzen Mehrheit durch eine weiße Minderheit. Das wusste Adrian, und dennoch verletzte ihn Annas fragende Bemerkung – die er als Argwohn, als Verdacht an seiner Gesinnung erlebte – zutiefst. Er hatte sich doch immer so sehr um eine differenzierte Analyse des Kolonialismus und der postkolonialen Zeit bemüht. Er konnte sich nicht einfach auf die Seite der Aborigenes stellen, das war ihm zu einfach. Er wollte die Situation analysieren.
Jahre danach leidet Adrian immer noch, wie er
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