Die Kunst des guten Beendens
sein.
Ich werde nie vergessen, wie ich von einem ehemaligen Gefangenen und Kampfgenossen von Nelson Mandela auf Robben Island im Gefängnis herumgeführt wurde. Ich war sehr beklommen und mir war traurig zumute. Doch die Reisebegleiterin ermunterte uns, nicht traurig zu sein, sondernuns über die Befreiung des Landes und der Menschen zu freuen, ja, den wunderbaren Sieg des menschlichen Geistes zu feiern, der stärker ist als alles Übel und alles Böse.
Beginnen und Beenden sind die Kehrseiten derselben Medaille. Sie gehören zusammen. Sie kommen im Jetzt zusammen. Die Ausrichtung auf das Jetzt führt dazu, dass Wertungen fallen. Es ist, wie es ist, jetzt.
Diese Erkenntnis hat eine Lyrikerin, die im Irak und in Nigeria, im Libanon und in Bulgarien, eigentlich überall zu Hause ist, in folgende Worte gebracht:
»Das ewige erinnern macht hart. Denn das ewige
Erinnern hofft auf eine bessere welt.
Das vergessen macht weich, das ewige vergessen.
Von frischem brot der duft
Treibt durch das fenster.« 54
Natürlich bleiben viele Fragen offen, wie immer, wenn das Jetzt beschworen wird. Wie immer, wenn wir in materiell armen Ländern fröhlichen Menschen begegnen: Welches Vergessen ist hilfreich und in welchen Umständen? Welches Vergessen ist fatal, weil dann die Geschichte wiederholt wird? Der Duft von frischem Brot verweist auf das Jetzt. Immer wieder. Und wenn es kein Brot mehr gibt, das duftet, dann sind die Fragen des Erinnerns und Vergessens hinfällig geworden.
Das Jetzt ist jetzt; ob gut oder schlecht; es ist. Beginnen und beenden stellen sich in einem unmittelbaren Raum: jetzt.
Suchttendenzen
Das Glück des Daseins zunächst, dann der Körper. Er wird überwältigt und davon getragen. Nach einer bestimmten Zeit hat man die Wahl: entweder bis zur Bewusstlosigkeit zu trinken, oder es bei den Anfängen des Glücks bewenden zu lassen.
Marguerite Duras
Suchttendenzen verdienen heute ein besonderes Augenmerk, weil sie so alltäglich, so verbreitet geworden sind. Sie kommen in substanz-abhängigen (Alkohol, Nikotin, Kokain, Heroin etc.) wie in substanz-unabhängigen Formen (Esssucht, Kaufsucht, Spielsucht, Beziehungssucht, Sexsucht, religöser Wahn, zwangshaftes Horten etc.) vor. Der heutige Mensch lebt exzessiv, weil Zugänglichkeit und Zugriff zu Drogen aller Art leichter geworden sind. Es ist immer häufiger zu beobachten, wie selbstschädigendes Verhalten zu pathologischen Formen führt. Die Sucht nimmt ihren Lauf.
Wer sich häufig in öffentlichen Räumen, in Bahnhöfen und Straßen bewegt, trifft immer öfter auf Menschen, die den Kopfhörer in die Ohren gesteckt haben, eine Zigarette in der einen Hand und ein Handy in der anderen Hand halten. Sie schotten sich ab von der Umwelt und nehmen die anderen Menschen kaum wahr. Sie sind in ihrer eigenen Welt, die sie gestalten und kontrollieren können.
Das Verbotene und das Unmögliche: sie ziehen den Menschen an. Wo und wie finden wir für unsere verbotenen und unmöglichen Wünsche einen Raum? Der grenzenlose innere Raum und die begrenzende Außenwelt fallen mit dem zusammen, was Winnicott in genialer Weise als »Übergangsraum« bezeichnet hat. Es ist ein potentieller, möglicher Raum, ein vermittelnder Bereich der Erfahrung und des Erlebens, der zwischen Phantasie und Realität angesiedelt ist. In diesem Übergangsraum wird vieles von dem spielerischinszeniert, was für das menschliche Leben wesentlich ist. Bei vielen Menschen ist jedoch dieser vermittelnde, kreative Erfahrungs- und Erlebnisraum schmerzlich beschränkt und durch Süchte aller Art angefüllt.
Das Individuum muss heute aus eigener Kraft sehr viel entscheiden, durchführen und verantworten. Der geringere Einfluss familiärer, gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Normen hat einen Einfluss auf die Fähigkeit des Menschen, Ambivalenz und Unsicherheit zu ertragen. Unsicherheit und Angst machen dumm. Das Abwägen und die Vereinbarung von Lust bzw. Verzicht werden schwierig. Es scheint, dass es vielen Menschen zunehmend schwerer fällt, gewisse Begrenzungen und Anpassungen sowie das Akzeptieren von nicht veränderbaren Gegebenheiten auszuhalten. Sie haben es nicht gelernt.
Gleichzeit schränken Abhängigkeiten die innere und äußere Freiheit eines Menschen ein. Wird eine Suchttendenz zur Sucht, werden mögliche Formen des Beendens (Abstinenz, kontrollierte Sucht) erwogen. Wie wir wissen, gibt es überwiegend immer wieder Rückschläge, Scheitern und neue Versuche. Beenden wird hier zum
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