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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Ley
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ständigen Thema.
    Ich möchte im Folgenden auf scheinbar ganz alltägliche Suchttendenzen von Menschen eingehen, die wir alle kennen.
Die beiden A’s: Alkohol und Achtsamkeit
    Alkohol und Achtsamkeit scheinen einander auszuschließen. Wenn wir uns die Kunst vergegenwärtigen, einen guten Wein herzustellen und im Eichenfass ruhen zu lassen, bis er seine Reife erreicht hat, dann hat das viel mit der Achtsamkeit des Weinbauers zu tun. Nicht nur das. Der Weinbau ist eine Beschäftigung, die rund um das Jahr viel Arbeit, viel Wissen und große Sorgfalt verlangt. Beobachten, jäten, schneiden, aufbinden, spritzen und pflücken sind nur die wichtigsten Tätigkeiten. Weinreben werden mit Bedacht an Abhängengepflanzt, damit das Regenwasser ablaufen kann. Sie verlangen ein spezielles Klima. Damit schließlich alles stimmt, ist auch Glück erforderlich. Beispielweise das Glück, dass kein Hagel die Ernte zerstört. Es ist wie bei aller Kunst: Sehr viel muss investiert und geleistet werden, ein besonderes Wissen und Können sind nötig – doch das Gelingen ist eine Gnade.
    Alkohol und Achtsamkeit schließen einander nicht aus. Das weiß Erika, eine 38-jährige Grafikerin, die um eine Psychotherapie ersucht, um sich über ihren Weinkonsum klar zu werden, über den Weinkonsum, der in ihrem Leben einen erratischen Block darstellt, wie sie meint. »Er steht da, ist riesig, unverrückbar. Er ist schön, aber nicht nur schön. Und ich frage mich, ob er mir im Weg steht oder ob er da richtig ist.«
    Erika erzählt: »Ich bin in einem Weinbaugebiet aufgewachsen. Von klein auf half ich den Weinbauern bei ihrer Arbeit. Ich bewunderte ihre Tätigkeit und den roten und weißen Saft, den sie aus den Trauben herstellten. Es waren für mich Zauberer einer besonderen Art. Ich kannte auch den Grafiker im Dorf, der die Etiketten entwarf. Ich glaube, bei ihm habe ich Feuer gefangen für meinen Beruf.
    Schon mit achtzehn Jahren merkte ich, dass ich mehr trank als alle anderen. Ich liebte es schon damals, wenn mich der Wein zu wärmen und zu entspannen begann und mir ein bisschen in den Kopf stieg. Das ging die letzten fast zwanzig Jahre so weiter. Es war und ist verbunden mit einem Wechselbad von Gefühlen. Wenn ich über die Stränge schlug, schämte ich mich. Auch vor mir selbst. Lange Jahre lebte ich sorglos und genussvoll. Die Sorglosigkeit ist mir leider ziemlich abhanden gekommen.
    Ich bin gesund. Meine Familie gedeiht. Im Beruf bin ich nicht nur erfolgreich, sondern sehr glücklich. Der Alkohol ist ein Stachel in meinem Fleisch. Und ein Stachel in meinem Geist. Er passt nicht zu meiner sonst achtsamen Lebensgestaltung. Ich habe schon viele Versuche gemacht, zu dosieren, ja gar aufzuhören für eine Weile. Manchmal gelingt es für eine Woche, dann fühle ich mich gut dabei.«
    In der Therapie galt es herauszufinden, was dieser Stachel war, der Stachel im Körper, der Stachel im Geist.
    Erika hat bereits mit achtzehn Jahren registriert, dass sie mehr trank als die anderen. Sie kann auch Gründe dafür angeben. Ihre Eltern waren sehr streng und erlaubten ihr wenig. Sie musste jedes Ausgehen erkämpfen. Wenn sie dann einmal ausgehen konnte, dann trank sie gern und viel. Vielleicht blieb es einfach eine genussvolle und übermäßige Gewohnheit? Genussvoll, ja. Übermäßig: was war der Maßstab? Die anderen? Die Gesundheitsempfehlungen? Der Kater am Morgen? Sie wusste es nicht. Auch ihr Vater trank viel und war oft betrunken. Ihre Mutter hat sie keifend und schimpfend in Erinnerung. Manchmal spürt sie Vater und Mutter in sich; beide eben, unvereinbar und doch in ihr vereint.
    Erika träumte viel, plastisch und sinnlich. Der Alkohol war in den Träumen oft präsent. Einmal kam sie mit einem Traum in die Therapiestunde, den sie »meinen Achtsamkeitstraum« nannte. Sie träumte, sie verbringe Ferien am Strand. Als sie eines Nachmittags ins Hotel zurückging, merkte sie dort, dass sie den Geldbeutel am Strand liegengelassen hatte. Sie ging zurück und fand ihn nicht mehr. Sie wurde wütend, als ihr eine Kollegin den Geldbeutel brachte, und merkte erst danach, dass die Kollegin ihn vermutlich gerettet hatte. Sonst wäre er wohl gestohlen worden. Sie war wütend geworden im Traum, erzählte sie, weil sie nicht achtsam gewesen war und die Kollegin ihr zuvorgekommen war. Sie wollte selbst auf ihren Geldbeutel aufpassen.
    In der Therapie wurde das tägliche Quantum besprochen. Es war tatsächlich an der Grenze zu den Werten, die offiziell als

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