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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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verrichtet hatten, ihn zu verfolgen. Sie fanden ihn, während er auf dem Feld arbeitete. Er erzählte mir, daß er eine Hand sah, die sich aus der lockeren Erde einer frischen Furche reckte und ihn am Hosenbein packte. Er dachte, es sei ein anderer Arbeiter, der versehentlich verschüttet worden war. Er versuchte ihn auszugraben. Dann aber merkte er, daß er in einen Erdsarg heineingrub; daß dort ein Mann begraben lag. Der Nagual sagte, daß der Mann sehr dünn und dunkelhäutig war und keine Haare auf dem Kopf hatte. Der Nagual versuchte verzweifelt, den Erdsarg wieder auszubessern, er wollte nicht, daß seine Arbeitskollegen ihn dabei erwischten, er wollte dem Mann nicht Schaden zufügen, indem er ihn gegen seinen Willen aus der Erde zerrte. Er arbeitete so wild, daß er nicht einmal bemerkte, daß die anderen Arbeiter sich um ihn geschart hatten. Inzwischen, so sagte der Nagual, war der Erdsarg zusammengebrochen und der schwarze Mann lag nackt auf der Erde. Der Nagual versuchte ihm aufzuhelfen und bat die anderen Männer, mit Hand anzulegen. Sie lachten ihn aus. Sie dachten, er sei betrunken und habe das Delirium tremens.
    Denn da war überhaupt kein Mann, kein Erdsarg oder etwas dieser Art auf dem Feld.
    Der Nagual sagte, er sei erschüttert gewesen, aber er wagte nicht, seinem Wohltäter davon zu erzählen. Das war auch schon egal, denn in der Nacht war eine ganze Schar von Gespenstern hinter ihm her. Er ging, um die Haustür zu öffnen, nachdem irgend jemand angeklopft hatte, und da platzte eine ganze Horde nackter Männer mit funkelnden gelben Augen herein. Sie warfen ihn auf den Boden und wälzten sich auf ihn. Sie hätten ihm jeden Knochen im Leibe zermalmt, wenn sein Wohltäter nicht so rasch gehandelt hätte. Er sah die Gespenster und zog den Nagual fort, in Sicherheit, in ein Loch im Boden, wie er es immer für alle Fälle hinter seinem Haus hatte. Dort begrub er den Nagual, während die Geister in der Runde hockten und auf ihre Chance warteten.
    Der Nagual erzählte mir, er sei so verängstigt gewesen, daß er sich freiwillig jeden Abend zum Schlafen in seinen Erdsarg legte, noch lange nachdem die Gespenster verschwunden waren. «
    Pablito hielt inne. Alle schienen im Begriff, aufzubrechen. Sie rückten hin und her und wechselten dauernd ihre Haltung, wie um anzudeuten, daß das Sitzen sie ermüdete.
    Dann erzählte ich ihnen, daß ich sehr beunruhigt gewesen war, nachdem ich den Bericht meines Freundes über die umherstreifenden Atlanter gehört hatte. Bis zu diesem Tag war mir nicht klargeworden, wie tief ich alles, was Don Juan und Don Genaro mich lehrten, aufgenommen hatte. Ich erkannte, daß ich völlig auf mein eigenes Urteil verzichtet hatte, auch wenn mir in meinem bewußten Denken klar war, daß die Möglichkeit, daß diese kolossalen Steinfiguren laufen konnten, nicht ernsthaft in Betracht kommen konnte. Meine Reaktion überraschte mich selbst ganz und gar.
    Ich erklärte ihnen ausführlich, daß die Vorstellung der in der Nacht umherlaufenden Atlanter ein deutliches Beispiel für die Fixierung der zweiten Aufmerksamkeit sei. Zu diesem Schluß war ich aufgrund folgender Überlegungen gelangt: Erstens, so überlegte ich mir, sind wir nicht nur das, was unser gesunder Menschenverstand uns glauben macht, daß wir seien. In Wirklichkeit sind wir leuchtende Wesen und fähig, uns unser Leuchten bewußt zu machen.
    Zweitens sind wir - als leuchtende Wesen, die sich ihres Leuchtens bewußt sind - in der Lage, verschiedene Aspekte unseres Gewahrwerdens, unserer Aufmerksamkeit, wie Don Juan es nannte, zu entfalten. Drittens geschieht dieses Entfalten durch absichtliche Bemühung, wie etwa durch jene, die wir selbst unternahmen, oder zufällig, durch ein körperliches Trauma. Viertes muß es eine Zeit gegeben haben, als die Zauberer absichtlich verschieden Aspekte ihrer Aufmerksamkeit an materielle Gegenstände hefteten. Fünftens müssen die Atlanter, nach der ehrfurchteinflößenden Atmosphäre ihres Standorts zu schließen, Fixierungsobjekte von Zauberern einer anderen Zeit gewesen sein.
    Ich erklärte, daß der Wärter, der meinem Freund diese Mitteilung machte, zweifellos einen anderen Aspekt seiner Aufmerksamkeit entfaltet hatte. Vielleicht war er ungewollt, wenn auch nur für einen Augenblick, zum Empfänger der Projektionen der zweiten Aufmerksamkeit eines alten Zauberers geworden. Es erschien mir nicht allzu weit hergeholt, daß der Mann womöglich die Fixierung jener Zauberer geschaut

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