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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ein Mann oder eine Frau ist«, sagte Don Juan »Wenn ich >von Natur< sage, so meine ich jemanden, der entweder als Mann oder als Frau geboren ist. Für einen Seher ist der am stärksten leuchtende Teil des Montagepunkts bei Frauen nach außen gekehrt, bei Männern nach innen. Der Montagepunkt des Mieters war ursprünglich nach innen gerichtet, aber er veränderte ihn, drehte ihn um - und jetzt sieht seine eiförmige Energiegestalt aus wie eine in sich eingerollte Muschel.«

12. Die Frau in der Kirche
    Don Juan und ich saßen und schwiegen. Ich wußte nichts mehr zu fragen, und er hatte mir anscheinend alles gesagt, was es zu sagen gab. Es war nicht später als sieben Uhr. aber die Plaza war ungewöhnlich menschenleer. Es war ein warmer Abend. In dieser Stadt streiften die Menschen am Abend meistens bis zehn oder elf Uhr um die Plaza.
    Ich brauchte eine Weile, um mir klarzuwerden, was mit mir geschah. Meine Zeit mit Don Juan ging zu Ende. Er und seine Gruppe wollten den Traum der Zauberer erfüllen, diese Welt zu verlassen und in unvorstellbare Dimensionen einzugehen. Aufgrund meiner beschränkten Erfolge im Träumen glaubte ich. daß ihr Anspruch keineswegs illusorisch, sondern durchaus verständig sei, wenn auch im Gegensatz zur Vernunft. Sie strebten nach Wahrnehmung des Unbekannten, und sie hatten es geschafft. Don Juan hatte recht, wenn er sagte, daß das Träumen, indem es eine systematische Verschiebung des Montagepunktes bewirkt, die Wahrnehmung befreit und den Bereich dessen erweitert, was wahrgenommen werden kann. Für die Zauberer seiner Gruppe hatte das Träumen nicht nur die Tür zu anderen wahrnehmbaren Welten aufgestoßen, sondern sie auch darauf vorbereitet, bei voller Bewußtheit in diese Regionen einzutreten. Das Träumen war für sie etwas Unbeschreibliches und Beispielloses geworden - etwas, dessen Wesen und Reichweite nur umschreibend benannt werden konnte, etwa wenn Don Juan sagte, daß es das Tor zu Licht und Dunkel des Universums sei.
    Eines noch gab es, was ihnen bevorstand: meine Begegnung mit demjenigen, der dem Tode trotzt. Ich bedauerte, daß Don Juan mich nicht im voraus unterrichtet hatte, damit ich mich besser hätte vorbereiten können. Aber er war ein Nagual, der alles Wichtige aus der Eingebung des Augenblicks tat. ohne Vorankündigung. Eine Weile fühlte ich mich recht wohl, wie ich dort im Park saß.
    mit Don Juan, und auf den Fortgang der Dinge wartete. Dann aber war es mit meinem Gleichgewicht zu Ende, und im Handumdrehen stürzte ich in schwärzeste Verzweiflung. Mich überfielen kleinliche Befürchtungen um meine Sicherheit, meine Ziele, meine Hoffnungen auf dieser Welt, meine Sorgen. Bei näherer Prüfung aber musste ich zugeben, daß die einzige wirkliche Sorge, die ich hatte, meinen drei Gefährtinnen in Don Juans Welt galt. Doch wenn ich es recht überlegte, war nicht einmal dies eine echte Sorge für mich. Don Juan hatte sie gelehrt, Zauberinnen zu sein, die immer wußten, was sie zu tun hatten; und vor allem hatte er sie darauf vorbereitet, immer zu wissen, was sie mit ihrem Wissen zu tun hatten.
    Nachdem alle diesseitigen Gründe, Angst und Leid zu empfinden, lange schon von mir genommen waren, blieb mir nur noch die Sorge um mich selbst. Und dieser überließ ich mich schamlos. Ein letzter Anfall von Sichgehenlassen, für unterwegs: die Furcht, von der Hand dessen zu sterben, der dem Tode trotzt. Ich geriet so in Angst, daß mir übel wurde. Ich wollte mich entschuldigen, aber Don Juan lachte nur.
    »Du bist nicht der einzige, dem vor Angst schlecht wird«, sagte er. »Als ich dem begegnete, der dem Tode trotzt, machte ich mir die Hose naß. Glaube mir.«
    Schweigend wartete ich einen langen, unerträglich langen Augenblick. »Bist du bereit?« fragte er. »Ja«, sagte ich Und aufstehend, fügte er hinzu: »Gehen wir also und sehen, wie du dich im Feuer bewährst.«
    Den Weg zur Kirche ging er voraus. So sehr ich mich auch anstrenge, kann ich mich bis zum heutigen Tag nur daran erinnern, daß er mich buchstäblich den ganzen Weg schleppen mußte. Ich erinnere mich nicht, wie ich vor der Kirche ankam oder eintrat. Ich weiß nur noch, daß ich dann auf einem langen, abgewetzten Betstuhl kniete, neben der Frau, die ich zuvor gesehen hatte. Sie lächelte mir zu. Verzweifelt sah ich mich um, versuchte Don Juan zu entdecken, doch er war nirgends zu sehen. Am liebsten wäre ich abgehauen, wie eine Fledermaus aus der Hölle, hätte die Frau mich nicht am Arm

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