Die Kunst des Träumens
Gefühl hineingerissen, ganz ähnlich wie die Wirbel in meinen Träumen. Das Laub des Mesquitestrauchs wurde zu einem ganzen Universum von Sinnesdaten. Es war, als hätte das Laub mich verschluckt, aber nicht nur mein Blick war daran beteiligt. Wenn ich die Blätter berührte, spürte ich sie tatsächlich. Ich roch sie auch. Meine Traum-Aufmerksamkeit war multi-sensorisch, nicht nur visuell, wie in meinen normalen Träumen.
Was als ein Starren auf das Laub des Mesquitestrauchs begonnen hatte, war zum Traum geworden. Ich glaubte, ich sei in einem geträumten Baum, wie ich schon selbst in unzähligen Träumen in einem Baum gesessen hatte. Und natürlich verhielt ich mich in diesem geträumten Baum, wie ich mich in meinen Träumen zu verhalten gelernt hatte; ich wechselte von Gegenstand zu Gegenstand, angezogen von der Macht eines Wirbels, der in jedem Teil des Baumes Gestalt annahm, auf den ich meine multi-sensorische Traum-Aufmerksamkeit richtete. Wirbel bildeten sich nicht nur, wenn ich ein Objekt anstarrte, sondern auch, wenn ich es mit einem Teil meines Körpers berührte.
Mitten in dieser Vision, diesem Traum, bestürmten mich rationale Zweifel. Ich fragte mich, ob ich tatsächlich in betäubtem Zustand auf den Wipfel dieses Baumes geklettert war, ob ich tatsächlich die Blätter streichelte, ohne zu wissen, was ich tat. Oder ob ich eingeschlafen war, vielleicht hypnotisiert vom Rascheln der Blätter im Wind, und jetzt träumte? Aber, wie sonst beim Träumen, hatte ich nicht genug Energie für lange Überlegungen. Meine Gedanken flogen nur so dahin. Sie dauerten einen Augenblick, dann wurden sie durch die Macht der direkten Erfahrung gelöscht. Plötzlich geriet alles ringsum in Bewegung, und ich tauchte aus dem Blätterdickicht auf, als hätte eine magnetische Anziehung des Baumes mich losgelassen. Jetzt überblickte ich, aus einiger Höhe, einen unermeßlichen Horizont. Dunkle Berge und grüne Vegetation umgaben mich. Wieder erschütterte mich ein Energiestoß bis ins Innerste, und ich war wieder woanders. Riesige Bäume ragten vor mir auf, höher als die Douglaskiefern von Oregon oder Washington. Nie hatte ich einen solchen Wald gesehen. Die Landschaft stand in so starkem Kontrast zur Trockenvegetation der Wüste von Sonora, daß ich nicht mehr bezweifeln konnte, daß ich in einem Traum war.
Ich hielt diesen verblüffenden Anblick fest, hatte Angst loszulassen, und wußte doch, daß es tatsächlich ein Traum war und verschwinden würde, sobald meine Traum-Aufmerksamkeit zu Ende ging. Aber die Bilder blieben, auch als ich glaubte, daß meine Traum-Aufmerksamkeit längst erschöpft sei. Und nun kam mir ein beängstigender Gedanke: Wie, wenn dies weder ein Traum noch die alltägliche Welt wäre? Furchtsam - wie ein verängstigtes Tier - wich ich wieder ins Blätterdickicht zurück, aus dem ich aufgetaucht war. Der Schwung meiner Rückwärtsbewegung ließ mich immer weiter fliegen, durch das Laub und um die harten Äste des Baumes herum. Ich wurde fortgerissen von diesem Baum, und im Bruchteil einer Sekunde stand ich neben Don Juan, vor der Tür seines Hauses in der Wüste von Sonora.
Sofort merkte ich, daß ich wieder in einen Zustand geraten war. wo ich zwar zusammenhängend denken, aber nicht sprechen konnte. Don Juan meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Die Sprache sei eine gefährdete Sache, und Anfälle von Stummheit nicht selten bei Zauberern, die über die Grenzen normaler Wahrnehmung hinausgingen.
Insgeheim glaubte ich, Don Juan habe nur Mitleid mit mir und wolle mich trösten. Aber die Stimme des Traumbotschafters, die ich im selben Augenblick deutlich vernahm, sagte, ich würde mich nach einer Ruhepause wieder wohlfühlen. Wieder erwacht, schilderte ich Don Juan in allen Einzelheiten, was ich gesehen und getan hatte. Er sagte, ich solle es aufgeben, meine Erfahrungen verstandesmäßig begreifen zu wollen. Nicht etwa, weil mein Verstand zu schwach wäre, sondern weil diese Phänomene außerhalb aller Logik und Rationalität lägen. Ich wandte ein, es könne und dürfe nichts geben, was für die menschliche Vernunft unzugänglich sei. Auch wenn die Phänomene noch so unklar wären, finde die Vernunft stets einen Weg, alles aufzuklären. Dies war tatsächlich damals meine Überzeugung.
Mit größter Geduld entwickelte mir Don Juan dann seine Auffassung: der Verstand, sagte er, sei nur ein Nebenprodukt der gewohnten Position unseres Montagepunktes. Unsere Kenntnisse, unsere Logik, unser Gefühl,
Weitere Kostenlose Bücher