Die Kunst, frei zu sein
dessen Dünkel ihn an der Erkenntnis hindert, dass Viola niemals Gefallen an ihm finden wird. Deshalb ist er eine leichte Beute für den Streich, den ihm Sir Toby Belch und Maria spielen. Die beiden repräsentieren die Lebenseinstellung des »Iss, trink und sei fröhlich, denn morgen könnten wir sterben«. Hier ist Marias Beschreibung von Malvolios Charakter:
Den Henker mag er ein Pietist oder sonst etwas anders auf die Dauer sein als einer, der den Mantel nach dem Winde hängt! Ein gezierter Esel, der vornehme Redensarten auswendig lernt und sie in großen Brocken wieder von sich gibt; aufs Beste mit sich selbst zufrieden; wie er meint, so ausgefüttert mit Vollkommenheiten, dass er ein Glaubensartikel bei ihm ist: wer ihn ansieht, müsste sich in ihn verlieben. Dies Laster an ihm wird meiner Rache vortrefflich zustattenkommen.
Die Überzeugung, dass er ein überlegenes Geschöpf sei, ist für Malvolio ein »Glaubensartikel«. Maria und Belch verfassen einen gefälschten Liebesbrief von Viola an Malvolio, in dem sie dem Puritaner angeblich mitteilt, sie würde ihn gern mit gelben Strümpfen und kreuzweise gebundenen Kniegürteln bekleidet sehen. So demütigen die mittelalterlich Gesonnenen den Puritaner auf eindrucksvolle Art, doch uns bleibt Malvolios eisige Warnung im Ohr: »Ich räche mich an Eurer ganzen Rotte!« Und genau das tat er, denn seitdem hat die puritanische unzweifelhaft über die mittelalterliche Lebenshaltung gesiegt.
Das soll nicht heißen, dass die Anti-Puritaner nie zu Wort gekommen wären. Einer, den man niemals als Tugendbold hätte bezeichnen können, war der erwähnte Lord Wilmot, Earl of Rochester. Er war ein Dandy der Restauration, ein tollkühner, sexsüchtiger Libertin, ein Freund von Karl II. und einer der »fröhlichen Bande«, wie sein Zeitgenosse Andrew Marvell Rochester und dessen literarische Gefährten nannte. Kürzlich hatte ich das Glück, dass mir ein Besucher Wilmots Gedicht »Régime de vivre« auswendig vortrug:
Ich steh’ auf um elf, ich esse um zwei,
Ich betrink’ mich vor sieben; wenn das vorbei,
Ruf’ ich meine Hure, und aus Angst vor schlimmem Los
Ergieß’ ich mich in ihre Hand und spuck’ in ihren Schoß.
Dadurch erhält man eine Vorstellung von Rochesters Prioritäten. Aber er war nicht nur ein Wüstling; er vertrat auch eine nihilistische, Sartre vorwegnehmende Einschätzung der Welt als im Wesentlichen absurd und sinnlos. In »A Fragment of Seneca Translated« behauptet er, alle Mythen von einem Leben nach dem Tode seien Trugbilder, Hirngespinste des Menschen. Zudem verurteilt er in der Gestalt des ehrgeizigen Eiferers die Selbstgefälligkeit nach Art Malvolios:
Nach dem Tod ist nichts, und nichts ist Tod,
Die letzte Grenze deiner Atemnot.
Lass ehrgeiz’gen Eifrer nur vergessen
Seine Hoffnung auf den Himmel, ohnehin vermessen;
Lass Sklavenseelen ihre Furcht fortwerfen
Und sich nicht durch die Frag’ entnerven,
Wohin danach ihr Geist wohl fällt.
Tot werden wir zum Müll der Welt,
Und werden zu dem Haufen gefegt,
Wo sich das Zerstörte zum Ungebornen legt.
Der Zeiten Schlund verschlingt uns ganz,
Bis Seel’ und Körper brechen im letzten Tanz.
Denn Hölle und Teufel, die gemeinsam regiern
Und in Gottes ew’gem Feuer die Kohlen schürn
(Erfunden von Schurken, gefürchtet von Deppen),
Dazu der Höllenhund, der uns will neppen.
Sind müß’ge Märlein, törichte Geschichten,
Träume und Launen, die wir uns erdichten.
Hier sehen wir die Verbindung zwischen Libertinismus und Freiheit: Der Libertin ist davon überzeugt, dass sämtliche Moralvorstellungen von Menschen erschaffen wurden, weshalb man sich auch nicht an sie zu halten braucht. Auch ein weiterer Nihilist, Samuel Beckett, soll Alkohol und Prostituierte geliebt haben. Doch warum auch nicht, da wir alle ohnehin am Ende ins Nichts übergehen. Was man dem Libertin unzweifelhaft nicht anlasten kann, ist Selbstgefälligkeit.
Man muss sich fragen, wieso der Puritanismus so einflussreich werden konnte. Dafür ist meiner Meinung nach der Groll verantwortlich. Der Puritanismus gab den zornigen unteren Ständen eine Möglichkeit, sich mächtig zu fühlen. Um sich selbst Macht zu verschaffen, fachten die neuen Bourgeois den Zorn der unteren Stände an. Diese Schlussfolgerung wird jedenfalls durch die Popularität eines frühen Puritaners, des florentinischen Mönchs Savonarola, nahegelegt. Im späten fünfzehnten Jahrhundert machte Savonarola sich durch seine dröhnenden Predigten einen Namen, in denen er
Weitere Kostenlose Bücher