Die Kunst, frei zu sein
dieses Hilfsmittel zu leben.
In Gesellschaften, in denen Geld keine derart zentrale Rolle spielt wie bei uns, haben die Menschen bessere Manieren. In Mexiko zum Beispiel wird erwartet, dass man, bevor man sich zum Schlafen zurückzieht, die Anwesenden bittet: »Con su permiso« (Mit eurer Erlaubnis) – eine erfreuliche Redewendung. Was gutes Benehmen und Höflichkeit betrifft, so ist stets ein spielerisches linguistisches Element daran beteiligt. Kropotkin verweist auf die guten Manieren und den Charme primitiver Gesellschaften. Zum Beispiel war Höflichkeit in der Mayakultur von höchster Bedeutung. Auch für Konfuzius waren gute Manieren das Öl, welches das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft ermöglicht. Es ist nur folgerichtig, dass Manieren und Rituale in Gesellschaften, die sich auf ein kollektives Ideal stützen, äußerst wichtig sind, während sie in Gesellschaften, die auf den Idealen des Wettbewerbs beruhen, nur als Mittel zum Zweck dienen. Bei Cobbett und Hardy lesen wir von den »alten Sitten«, das heißt von der Höflichkeit und dem Respekt, mit denen die Menschen einander behandelten, bevor die aufdringlichen, sich einmischenden, nach Geld strebenden Calvinisten alles verdarben.
Der höflichste Mensch aller Zeiten war vermutlich der große Visionär und Vagabund des zwölften Jahrhunderts, der heilige Franz von Assisi. Er war zunächst ein fröhlicher junger Lebemann und Mitglied jener charmanten literarisch-musikalischen Bewegung der damaligen Zeit, der Troubadoure von Okzitanien (Südfrankreich). Später legte er jedoch das Armuts- und Keuschheitsgelübde ab und verzichtete auf Geld. Das allein ist über die Maßen höflich, weil es garantiert, dass sich andere in deiner Umgebung wohlfühlen, während der protzige Millionär mit mehreren Mädchen am Arm Neid hervorruft und sich daher schlecht benimmt. Chesterton sah einige der großen Qualitäten des heiligen Franz von Assisi in dessen Manieren: Er war allen gegenüber höflich und zeigte ein aufrichtiges Interesse an ihrem Innenleben. »Wir können sagen, dass sich der heilige Franz in der reinen und kargen Einfachheit seines Lebens an einen einzigen Fetzen des Luxus klammerte: an die Manieren des Hofes.« Er stufte sich nicht höher als andere ein, er war von dieser Welt und wusste, dass sie einer unbegrenzten Vielfalt von Menschen Platz bietet. Der heilige Franz agierte in dem Raum zwischen dem Diesseits und dem Jenseits.
In Südfrankreich, der Heimat der Troubadoure, galt Gastfreundschaft als selbstverständlich. Die Troubadoure waren nicht bloß umherziehende Minnesänger, sondern auch Komponisten und Musiker aus allen Gesellschaftsschichten, die die höfische Liebe als Ideal hochhielten. Das Wort »Troubadour« kommt vom lateinischen tropator (Entdecker). Diese große Gruppe von Künstlern erfand eine neue Art umgangssprachlicher vertonter Liebesdichtung. Ihre Texte waren satirisch, pastoral und manchmal zweideutig; sie handelten von Ritterlichkeit und oftmals von Freude. Die Troubadoure waren frühe Romantiker, die Popstars ihrer Zeit. Sie spielten Trommel, Laute, Flöte und die wunderbare Handorgel (oder Varianten dieser Instrumente). Auf ihren Reisen benoteten sie Herrenhäuser und Höfe nach der angebotenen Kost. Eine ideale Hauptmahlzeit bestand aus Reh, Wildschwein oder sonstigem Wildbret und Fisch, gewürztem und ungewürztem Wein, Kartoffelpuffern und Keksen oder auch aus Trappe, Schwan, Kranich, Rebhuhn, Ente, Kapaun, Gans, Huhn und Fasan, Kaninchen, Hase, Beeren, Wurzeln und Früchten. Häufig beklagen sich die Troubadoure in ihren Gedichten über geizige Reiche, die eine kümmerliche Tafel anboten. Zum Glück gibt es heute Künstler, die die energische Musik der Troubadoure neu erstehen lassen, und ich sitze abends gern in meinem Pub, dem Green Man, während der mittelalterliche Beat aus der Stereoanlage hämmert (besonders empfehlenswert sind die Werke des Unicorn Ensemble).
Vor allem priesen die Troubadoure das fröhliche Leben und die Höflichkeit. Berenguier de Palou aus dem zwölften Jahrhundert textete:
Tant m’abelis jòis e amors e chants, E alegrièr, depòrt e cortesia,
(So sehr schätze ich Freude und Liebe und Gesang, Frohsinn, Zerstreuung und Höflichkeit)
Gute Manieren und Gastfreundschaft waren auch für die frühe handwerkliche Mittelschicht wichtig, die sich, wie gesagt, in Gilden organisierte. Diese Kaufleute und Handwerker mussten den Aristokraten und Klerikern beweisen, dass Arbeit ohne Verstoß
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