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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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gegen die Regeln der Höflichkeit verrichtet werden konnte. So galt beste Verarbeitung zu einem tragbaren Preis als Ausdruck der Liebenswürdigkeit, während es für grob gehalten wurde, Kunden mit schäbigen Waren übers Ohr zu hauen.
    Ebenso entsprach es den guten Manieren, die Armen zu versorgen und sich umeinander zu kümmern. Heinrich VIII., Cranmer und der Protektor Somerset führten dann neue, schockierend grobe Standards ein. Systematisch schafften sie sämtliche höflichen Neuerungen der mittelalterlichen Gesellschaft ab: die gemeinschaftlich genutzten Felder, die Klöster, die Gildenböden, den Brauch der offenen Tür. Ein besonderer Reiz des Mittelalters war der Umstand, dass es eine kindliche Lebensintensität mit dem Bemühen verband, gut miteinander umzugehen.
    Heute müssen sich Rebellen mit dem Problem auseinandersetzen, dass gute Manieren seit der viktorianischen Epoche mit Unterwürfigkeit assoziiert werden. Leider wurden die Manieren im neunzehnten Jahrhundert durch den übertriebenen Nachdruck auf Etikette verfälscht, die eher auf Respekt vor höhergestellten Personen als auf wirklicher Höflichkeit beruhte. Während man von den unteren Ständen erwartete, dass sie die Oberschicht zuvorkommend behandelten, scheint dies umgekehrt nicht gegolten zu haben. Damit wurden Manieren von einem Zeichen der Rücksichtnahme zum Ausdruck von Servilität. Wer sich unkultiviert verhielt, begehrte also, wie man meinte, gegen autoritäre Werte auf.
    Ein Moment der Überlegung macht jedoch deutlich, dass genau das Gegenteil der Fall ist und dass gute Manieren rebellisch und anarchisch sind. Mehr noch, sie sind antikapitalistisch. Mein Freund, der makellos gekleidete Gavin Clarke, betreibt eine brillante Zeitschrift namens The Chap. Sie beschwört eine Welt der pfeiferauchenden Gentlemen herauf, die voreinander den Hut ziehen. Doch Mitarbeiter und Leser der Zeitschrift raffen sich manchmal zu rebellischen Aktionen auf. Beispielsweise marschieren sie zu McDonald’s, um Kedgeree und Lapsang Sou- chong zu bestellen. Zu den Parolen von The Chap gehört »Zivilisiert die City«, und für die Anhänger sind Kleidung aus Tweed und elegante Halbschuhe ein Ausdruck des Trotzes angesichts der Klingelton-Kultur, der Markentrainingsanzüge und der abstumpfenden Eintönigkeit der modernen Welt. The Chap steht für das exzentrische Element in einer Welt der Uniformität.
    Hoffnung macht mir auch die Ausbreitung von Migranten um die Welt. Einwanderer aus altmodischeren Kulturen bringen ihre Liebenswürdigkeit mit ins Vereinigte Königreich, und dieser Prozess spielt sich seit Jahrhunderten ab. Sir William Temple bemerkt, wir hätten durch die normannische Eroberung »mehr Bildung, mehr Höflichkeit, eine zunehmende Verfeinerung der Sprache, der Sitten und Manieren … sowie eine Mischung aus Französisch und Normannisch erworben«. Fremde können uns helfen, gut zu leben.
    Wir müssen zu unseren guten Manieren zurückfinden. Der Idler -Mitarbeiter Josh Glenn schrieb regelmäßig eine Etikettekolumne für die Zeitschrift. Beispielsweise propagierte er den Einsatz von Entschuldigungskarten, die man am Tag nach einer Party, auf der man sich danebenbenommen hat, verschicken solle. Wir müssen unbedingt lernen, uns anständig zu verhalten: mit Charme, Liebenswürdigkeit, Höflichkeit, Rücksicht. Zu oft betrachtet man diese Dinge nur dann als Tugenden, wenn sie einem kommerziellen Zweck dienen. Aber sie sollten Selbstzweck sein.
    Bei uns zu Hause haben wir (bisher ohne Erfolg) versucht, Höflichkeitswettkämpfe abzuhalten. Dabei sollen unsere Konkurrenztriebe in eine Schlacht um Manieren umgeleitet werden: Wer ist auf besonders absurde Art überhöflich? »Guten Morgen, Pater. Dürfte ich dir vielleicht die Ungelegenheit bereiten, dich zu bitten, mir bei der Suche nach meiner Hose behilflich zu sein? Mater scheint sie verlegt zu haben.« »Gewiss, mein Kind. Es ist mir ein Vergnügen und eine Ehre, und bitte verlier kein Wort darüber. Übrigens, falls du bereit bist, aber nimm dir ruhig Zeit: Das Frühstück ist fertig.«
    Der Verfall von Manieren ist ein Zeichen einer sich auflösenden Gesellschaft. Die späten Römer waren grob; die zeitgenössische amerikanische Regierung ist grob. Es ist grob, viele Tausende irakischer Zivilisten zu töten. Einmischung ist grob; Regierungen sind grob; Experten sind grob. Während die alte Gesellschaft auseinanderbricht, müssen wir ruhig und bescheiden eine neue an ihrer Seite aufbauen. Die

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