Die Kunst, frei zu sein
Auserwählten, den Farbenfrohen, den Kreativen anzuschließen. Schaff deine eigene Welt. Wirf den Groll ab. Verdränge den Gedanken des »Müssens«. Du musst gar nichts tun. Du besitzt Willensfreiheit. Übe sie aus.
SEI EIN BOHEMIEN
7
Wirf deine Uhr weg
Die neue Bewegung baut langsam und lässig eine
Alternativgesellschaft auf. Sie ist international, interrassisch,
geprägt von der Gleichberechtigung der Geschlechter,
ungezwungen. Sie basiert auf einem anderen Verständnis
von Zeit und Raum. Die Welt der Zukunft wird
möglicherweise keine Uhren haben.
Tom McGrath, International Times, März 1967
In meinem letzten Buch habe ich dir geraten, deinen Wecker wegzuwerfen. Nun fordere ich dich dazu auf, auch deine Uhren in den Müll zu tun. Aus unerklärlichen Gründen scheint jeder eine teure Uhr haben zu wollen. Aber ist es nicht äußerst seltsam, dass ein Symbol der Sklaverei zugleich zu einem Statussymbol geworden ist? Das Tragen einer Uhr zeigt anderen, dass du dich an das moderne Industrietempo gefesselt hast. Das Tragen einer teuren Uhr bedeutet, dass du stolz darauf bist, auf diese Weise gefesselt zu sein. Sie ist buchstäblich eine äußerst kostspielige Kette. Die Uhr ist eine goldene Handschelle. Die Gitter des Käfigs sind vergoldet.
Von dem Historiker E. P. Thompson und von Jay Griffiths, dem Autor des Buches Pip Pip: A Sideways Look at Time, wissen wir, dass sich unser moderner Zeitbegriff mit der Konsumwirtschaft herausgebildet hat. In den frühen Tagen, bevor jemand daran gedacht hatte, Arbeitsabläufe zu organisieren und zu standardisieren, benutzte man in Klöstern Glocken, um dem aus Beten, Studieren und Gärtnern bestehendenAlltag eine gewisse Struktur zu verleihen. Später wurden Glocken in ganz Westeuropa eingesetzt, um Ortsversammlungen anzukündigen. Wenn man die Glocke hörte, sollte man die Arbeit niederlegen, die Felder verlassen und zu einem Treffen in die Stadt eilen. Bald erschienen Uhren auf den Marktplätzen; sie hatten den Zweck, den Arbeitsrhythmen eine gewisse Art Uniformität aufzuerlegen. Aber die Zeit war immer noch lokal und öffentlich und nicht überall identisch. Jede Ortsuhr zeigte eine unterschiedliche Zeit an, die jedoch für alle Gemeindemitglieder galt. In gewissem Sinne war die Zeit, eingeteilt durch die öffentliche Uhr, kostenlos. Das heißt, man brauchte sich keine eigene Uhr zu kaufen, weil ein öffentlicher Zeitmesser zur Verfügung gestellt wurde. Außerdem kostete die Zeit nichts, da sie nur in der jeweiligen Gemeinde galt.
Allerdings ließen sich bereits im vierzehnten Jahrhundert die Ansätze dessen erkennen, was Jacques Le Goff als »Kaufmannszeit« bezeichnet, nämlich die Kolonisierung der Zeit, um effektiver Geld zu verdienen:
Im Jahr 1355 gestattete der königliche Statthalter von Artois den Menschen von Aire-sur-la-Lys, einen Turm zu bauen, dessen Glocken die Stunden geschäftlicher Unternehmungen und die Arbeitsstunden der Textilarbeiter verkünden würden . . . die Gemeindeuhr war ein Instrument der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herrschaft, welche die Kaufleute, die Führer der Gemeinde, ausübten. Sie benötigten eine strikte Zeitmessung, denn im Textilgewerbe »ist es angebracht, dass die meisten Tagelöhner – das Proletariat des Gewerbes – die Arbeit zu festgelegten Stunden beginnen und beenden«.
Die »infernalischen Rhythmen«, schreibt Le Goff, waren bereits zu spüren. Im Mittelalter wetteiferte die »Kaufmannszeit« mit der religiösen Zeit. Die vorherrschende religiöse Einstellung besagte, dass Zeit nicht verkauft werden könne. Folgendes antwortete ein Franziskanermönch im vierzehnten Jahrhundert, als er nach Krediten und Zinsen befragt wurde:
Frage: Ist ein Kaufmann berechtigt, bei einem Geschäft eine höhere Bezahlung von jemandem zu fordern, der seine Rechnung nicht sofort begleichen kann, als von jemandem, der dazu in der Lage ist? Die Antwort hierauf lautet Nein, weil er in diesem Fall Zeit verkaufen und damit Wucher begehen würde, da er etwas verkauft, das ihm nicht gehört.
Heute vertreten wir den genau entgegengesetzten Standpunkt: Banker und vermögende Menschen werden verehrt. Zeit und Geld, die man im Mittelalter so mühevoll zu trennen versuchte, sind miteinander verschmolzen. Wodurch kam es zu diesem Wandel? Wie in anderen Fällen auch gebe ich dem heimtückischen Rackerer und Moralisten Benjamin Franklin die Schuld, der im achtzehnten Jahrhundert eine völlig neue Denkweise hinsichtlich der Zeit
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