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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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vertrat. Zeit war kein Gottesgeschenk mehr, sondern Zeit war Geld. Die folgende Passage wurde als Propaganda für junge Männer, die sich in die Welt hinausbegaben, geschrieben:
    Zeit ist Geld. Wer einen Thaler täglich durch seine Arbeit verdienen kann, aber den halben Tag spazieren geht oder müßig sitzt, der giebt nicht nur den Groschen aus, den er vielleicht während der Zeit seines Müßigganges verzehrt; er hat auch den halben Thaler weggeworfen, den er sich hätte erwerben können. Kredit ist Geld. Wenn Du Dein zur Zahlung fälliges Geld noch in meinen Händen lässt, so schenkst Du mir die Zinsen oder den Verdienst, den ich während der Zeit mit dem Geld erringe. Wer also guten, ausgebreiteten Kredit besitzt und denselben auch zu benutzen weiß, kann sich einen eben so bedeutenden Gewinn dadurch verschaffen, als mit barem Gelde. Geld ist von Natur schaffend und fruchtbar. Das Geld ist so fruchtbarer Natur, dass das eben Geborene (Gewonnene) sich sogleich in dem Zustande befindet, anderem wieder das Leben zu schenken. Wenn aus fünf Thalern durch Umsatz sechs werden, so bedarf es nur eines nochmaligen Umsatzes, um sieben und ein Viertel zu erhalten, je mehr vorhanden ist, desto mehr wird durch jeden Umsatz gewonnen. Wer eine trächtige Sau schlachtet, vernichtet ihre ganze Nachkommenschaft bis in die tausendste Generation. Wer einen Gulden todtschlägt, vernichtet alles, was dieser gebären kann, selbst Hunderte von Thalern.
    Für Franklin ist es nicht nur eine moralische Pflicht, Zeit als Geld zu betrachten, sondern für ihn ist auch die Anhäufung von Geld um ihrer selbst willen zu einem würdigen Ziel geworden. Verbunden mit Geld, ist Zeit kein Mittel des Austausches mehr, sondern sie nimmt ein eigenes Leben an. Gewinn als abstrakter Begriff wird zu einem erstrebenswerten Ziel, ohne dass gesagt wird, warum Profit gut ist und auf welche Weise er der Gesellschaft nützt. Auf Wiedersehen, menschliche Bruderschaft; hallo, einsame Streber.
    Wenn wir also wie der boshafte Franklin glauben, dass Zeit Geld sei, dann ist es kommerziell recht sinnvoll, eine Uhr zu tragen und all der wertvollen Zeit auf der Spur zu bleiben, damit sie nicht in der Bierschänke vergeudet wird. Die Zeit ist nicht mehr lokal und öffentlich, sondern global und privat. Aber wenn du dir der Zeit ständig bewusst bist, lebst du nicht mehr in der Gegenwart, da du stets deinen nächsten Schritt planst. Du verzichtest auf jenes köstliche Gefühl, dass die Zeit ihren eigenen Vorsätzen folgt oder dass du »die Zeit aus den Augen verlierst«. Das ist der wunderbare Zustand, in dem sich niemand von den Stunden fesseln, sondern sie dahinstreichen lässt. Plötzlich können vier Stunden wie im Fluge vergehen. Nimm die Uhr ab, und du bist buchstäblich frei von der Zeit. Wenn du wissen willst, wie spät es ist, such nach einer Uhr oder ruf die Zeitansage an – es gibt viele Möglichkeiten.
    Ich befürworte übrigens keinen Mangel an Verantwortung und keine Saumseligkeit im Umgang mit anderen. Da wir alle uns auf eine bestimmte Art Zeit geeinigt haben, sollten wir uns an sie halten. Trotzdem ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, ob es nicht schön wäre, auf afrikanische Weise mit der Zeit umzugehen? Dort werden Verabredungen nicht getroffen, sondern sie kommen einfach zustande. Der Gedanke an Termine wäre für einen Afrikaner – zumindest für einen altmodischen, ländlichen Afrikaner – lächerlich, weil das Leben unberechenbar ist. Ein afrikanisches Supermodel kam zu ihren Terminen in New York dauernd zu spät, weil sie sich einfach nicht an das neue, strenge Zeitverständnis gewöhnen konnte.
    Obwohl es zweifellos unhöflich ist, sich zu verspäten, versuche ich, so vage Zeitangaben wie möglich zu machen, zum Beispiel: »Ich müsste zwischen fünf und sechs eintreffen.« Außerdem lerne ich, mir jede Menge Zeit einzuräumen, um mein jeweiliges Ziel zu erreichen, denn unterwegs kann es zu allen möglichen Verzögerungen kommen. Vielleicht begegne ich jemandem und werde in ein Gespräch verwickelt. Falls ich jedoch zu früh eintreffe, umso besser. Ich erinnere mich an Joe Ortons Tagebücher, in denen er schrieb, er erscheine stets früh zu Verabredungen, weil er dann Gelegenheit habe, in aller Ruhe herumzuspazieren, bevor er an die Tür klopfe. Er hatte keine Angst vor Zeitverschwendung. Es gibt zwei Arten von Menschen: diejenigen, die Verzögerungen und Missgeschicke genießen, und diejenigen, die sich sofort aufregen und anfangen,

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