Die Kunst, frei zu sein
für die Monotonie unseres Lebens. Keine Regierung verkündet Parolen wie: »Konsequent gegen die Langeweile. Konsequent gegen die Ursachen der Langeweile.« Die unübertroffen langweiligste Regierung – und sämtliche Regierungen sind ihrem Charakter nach langweilig – war die der Nazis: Linien und Reihen und Kolonnen, das Fehlen von Individualität, die Auferlegung einer bürokratischen Ordnung, die systematische Beseitigung alles Interessanten – besonders der Juden, aber auch der Zigeuner, der Landstreicher, der Arbeitsscheuen und der Regimekritiker. Die Nazis liebten es, Mitteilungen zu verschicken, Formulare auszufüllen, Akten und Listen anzulegen und alles peinlich sauber zu halten. Wie die Puritaner vor ihnen gaben sie sich einer umfassenden Aufräumaktion hin, und deshalb muss man sich gegen übermäßige Ordnungsliebe wehren.
Der Hauptgrund dafür, dass so viele Menschen durch und durch gelangweilt sind, ist der, dass langweilige Personen die Verantwortung übernommen haben. Die Geldverdiener, die vom Profit besessenen Kapitalisten, die Hohepriester der absoluten Langeweile steuern die Geschäfte. Und die Bürokraten – Bürohengste und Gesundheits- und Sicherheitsapostel – sitzen in der Regierung. Langeweile gefällt ihnen, denn es würde sie erschrecken, lebendig zu sein. Aber so ist es nicht immer gewesen, und so braucht es nicht immer zu sein. Früher einmal, vor gar nicht so langer Zeit, wurden die Langweiler als gottlos an den Rand gedrängt. Im Mittelalter, besonders in dessen Anfangsphase, sahen die Krieger, Geistlichen und Bauern auf jene herab, die bürgerliche, auf das Geld fixierte Werte vertraten. »Der Handel hat etwas Schändliches, etwas Schmutziges und Beschämendes an sich«, schrieb ein Meinungsmacher wie der heilige Thomas von Aquin. Glück sei in der Reflexion, nicht in der Ablenkung zu finden:
Wenn also die letzte Glückseligkeit des Menschen nicht in den äußeren Dingen besteht, die man Glücksgüter nennt; nicht im Körper-Guten; nicht im Guten der Seele, insofern es sich auf den sinnlichen Bereich bezieht; nicht insofern es sich auf den geistigen Bereich, dieser sich aber auf den Akt der sittlichen Tugenden oder jene geistigen Fähigkeiten bezieht, die eine Tätigkeit betreffen, nämlich Kunst und Klugheit: so bleibt übrig, dass die letzte Glückseligkeit des Menschen in der Betrachtung der Wahrheit liegt.
Langeweile ist eine Form gesellschaftlicher Kontrolle. Gleichzeitig mit dem Auftauchen der Langeweile im späten neunzehnten Jahrhundert wurde die Auffassung in Frage gestellt, dass der Plebs seine Vergnügungen selbst organisieren könne. Wie wir alle wissen, entstanden Kunst und Unterhaltung in früheren Epochen von der Basis aus. Theaterstücke wurden meist von Laien aufgeführt. Zum Beispiel lagen die Mysterienspiele in den Händen der Gilden, denn mittelalterliche Künstler waren gleichzeitig Handwerker. Doch der radikale Historiker E. P. Thompson zeigt uns, wie misstrauisch die Behörden zu Beginn des Industriezeitalters auf derart demokratische Kunstproduktionen reagierten, weshalb sie dem Volk die Kontrolle über Arbeit und Freizeit entzogen. In The Romantics zitiert er die wohlmeinende Antwort einer vornehmen örtlichen Liberalen auf den Antrag eines Fabrikarbeiters, 1798 ein Drama zu inszenieren: »Das Stück«, meinte sie besorgt, »könnte die Tendenz haben, euch zu schaden und euch auf Szenen des Aufruhrs und Tumults in der Bierschänke vorzubereiten.« Für Thompson ist dies der Beweis für die zunehmende »Furcht vor einer authentischen Volkskultur jenseits der Steuerung und der Kontrolle der Respektspersonen«. Außerdem macht Thompson das zentralisierte Erziehungssystem verantwortlich und führt den 1911 verfassten Brief eines ehemaligen Hauptschulrats an, der das Bildungswesen überraschenderweise als langweilig kritisierte: »Das Ziel des Lehrers besteht darin, dem Charakter [des Schülers] nichts zu überlassen, genauso wenig wie seinem spontanen Leben oder seiner eigenständigen Tätigkeit; all seine natürlichen Impulse zu unterdrücken; seine Energien völlig stillzulegen; sein ganzes Wesen in einem Zustand der ununterbrochenen und schmerzhaften Spannung zu halten.«
Langeweile ist schmerzhaft. Für Vaneigem wird der Geist durch den Zwang erschöpft, so zu werden wie jeder andere: »Doch während sich die hierarchisierte Organisation der Natur bemächtigt und sich im Kampf verwandelt, wird der den Individuen vorbehaltene Teil der Freiheit und
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