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Die Kunst, frei zu sein

Die Kunst, frei zu sein

Titel: Die Kunst, frei zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hodgkinson
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hinauszögert, nehmen die Rechnungen immer erschreckendere Farben an, und der Tonfall wird mit jeder neuen Mahnung bedrohlicher. Die Schreiben sind, mit den Worten des Satirikers Ian Vince, in einem »gönnerhaften, doch mehr oder weniger autoritären Stil« verfasst. Die Sprache ist falsch, hässlich, kalt, unpersönlich, schuldeinflößend, und sie besagt in Wirklichkeit: »Reiß dich zusammen, du Nichtsnutz. Du schmarotzt. Alle anderen haben bezahlt. Leute wie du schaden dem gesamten System. Erfüll deine Aufgabe.«
    In den jährlichen Schreiben vom Finanzamt herrscht ein ähnlicher Tonfall, eine verwirrende Mischung aus Hilfsbereitschaft und Drohung. Dem freundlichen, fürsorglichen Angebot: »Wenn Sie Unterstützung benötigen, sind wir für Sie da – online, am Telefon oder persönlich« folgt sofort die fett gedruckte Warnung: »Wenn Sie falsche Angaben machen, müssen Sie mit Geldstrafen und Zinsaufschlägen rechnen.«
    Wegen meiner Neigung, finanzielle Angelegenheiten zu vernachlässigen, brummt mir auch meine Bank horrende Gebühren auf. Zum Beispiel sind in den letzten beiden Monaten 300 Pfund von meinem Konto abgebucht worden, weil ich meinen Dispo-Kredit überzogen hatte, in manchen Fällen nur um ein oder zwei Tage. Früher versuchte ich, diese Kosten rückgängig machen zu lassen, und manchmal hatte ich sogar Erfolg. Aber nun habe ich dazu keine Lust mehr. Die Aussicht, dass ein Brief, den ich der Bank schreibe, oder ein Anruf von mir jemanden erreicht, der kein Automat ist, und dass ich dann noch eine Rückerstattung durchsetzen kann, ist zu gering. Also versuche ich es gar nicht mehr, sondern nehme mir halbherzig vor, mein Leben in Ordnung zu bringen. Tief im Innern betrachte ich die Gebühren als angemessene Strafe für meine Nachlässigkeit. Doch dann lese ich in der Zeitung, dass meine Bank, die HSBC, gerade einen Jahresgewinn von fast zehn Milliarden Pfund erzielt hat. Sie scheint also von meiner Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, ganz hübsch zu profitieren.
    Vor ein paar Tagen klingelte es an der Tür. Es war Emma Brown (das ist nicht ihr wirklicher Name) vom Finanzamt Extable. Wir setzten uns an den Küchentisch, und sie erklärte mir, ich sei dem Finanzamt noch 1700 Pfund schuldig. Wenn ich nicht zu zahlen in der Lage sei, werde sie sich im Haus nach Dingen – Autos oder Fernsehgeräten – umsehen müssen, die man mitnehmen könne. Das Wort »Pfändung« wurde erwähnt. Nun weiß ich zwar nicht genau, was das Wort bedeutet, aber jedenfalls hat es einen drohenden Beiklang. Zum Glück fiel mir ein, dass mein Steuerberater mir kurz zuvor mitgeteilt hatte, ich sei dem Finanzamt nur 500 Pfund schuldig. Ich überprüfte mein Konto und stellte fest, dass mir noch ungefähr 500 Pfund bis zur Überziehung meines Dispo- Kredits blieben. Emma Brown akzeptierte einen Scheck über diesen Betrag und ging ihres Weges.
    Ich hatte mich nicht bewusst kriminell verhalten, sondern war nur träge gewesen, vielleicht ein bisschen leichtfertig, geistesabwesend. Trotzdem wurde ich wie ein Verbrecher behandelt. Dabei ist jeder wenigstens ein bisschen desorganisiert. Man müsste ein Roboter sein, um das zu vermeiden. Die Nazis waren gut organisiert. Deshalb werden allen Nichtrobotern der Gesellschaft Geldstrafen auferlegt. Nirgends zeigt sich dieser Ablauf deutlicher als bei der Vergabe von Knöllchen. Wehe dem Autofahrer, der neunzig Sekunden zu spät zu seinem Wagen zurückkehrt. Schon muss er eine hohe Geldstrafe zahlen. Tut er es nicht sofort, verdoppelt und verdreifacht sich der Betrag. Einmal brachte ich es auf fast 1000 Pfund an Geldstrafen, weil ich den Antrag auf einen Anwohner-Parkausweis zu spät gestellt hatte. Und nur weil ich vor einer Art Tribunal erschien – trotz eines dröhnenden Katers gelang es mir, die Sitzung durchzuhalten –, konnte ich die Strafe auf 500 Pfund herabsetzen lassen.
    Ja, sie verhängen Geldstrafen. Das Ganze hat etwas von einer Vergeltung für Missetaten. Statt offen als Geschäft oder als legalisierte Form des Diebstahls, was sie ist, einherzukommen, gibt sich die Geldstrafe moralisch. Sie wird von den Behörden verhängt, wenn man etwas verkehrt gemacht hat. Gott bestraft dich. Wenn du zum Beispiel deine Steuererklärung zu spät einreichst, musst du 100 Pfund zahlen – aber durch wessen Vollmacht? Wenn du keine Fahrkarte kaufst, bevor du in einen Zug steigst, zwingen dich manche Gesellschaften, einen astronomischen Betrag zu zahlen. Und natürlich hat nie jemand an etwas

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