Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
definitiv unmöglich machen.
Das erste Problem ist die Zukunft des Sozialstaates. Er ist längst an seine finanziellen Grenzen gestoßen. Der soziale Frieden in unserem Land aber ist so untrennbar mit dem Sozialstaat verbunden, dass sich kaum ein Politiker traut, öffentlich über einen grundlegenden Umbau nachzudenken. Und während das Vertrauen der Bürger in die sozialen Sicherungssysteme berechtigterweise schwindet, verspricht die Politik fast unisono die Fortsetzung des Bestehenden. Die Folge ist eine Glaubwürdigkeitskrise. Die meisten Menschen wissen längst, dass man ihnen etwas vormacht. Der große Konsens über die soziale Marktwirtschaft wandelt sich in einen Dissens über ihre Fortsetzung. Wie ist es möglich, dass die Schere zwischen Arm und Reich seit einiger Zeit immer dramatischer auseinanderklafft? Was muss anders verteilt werden oder umverteilt? Und wie viele Trittbrettfahrer kann sich unser System eigentlich (noch) leisten?
Die Entfremdung der Bürger von den Politikern ist also mehr als nur eine Frage von verweigerter Mitbestimmung. Sie ist auch ein Protest gegen den immer trotzigeren Versuch, eine Politik von gestern zu bewahren, in der Form und im Inhalt. Ihren stärksten Ausdruck findet sie, wie gezeigt, in einem zweiten Problem - der Ideologie des Wachstums, die uns glauben machen möchte, dass wir weiterhin die Umwelt zerstören und Ressourcen aufbrauchen müssen, um noch mehr Konsumgüter zu erzeugen. Tatsächlich aber fördert das Wirtschaftswachstum, wie gesehen, nicht einfach den Wohlstand, sondern es ruiniert ihn auch.
Doch warum steuern unsere Politiker nicht gegen, wenn die
mit Wachstumshormonen gedopte Gesellschaft mit Volldampf nach Absurdistan fährt? Die Antwort verweist auf das zweite Problem: weil niemand dafür zuständig ist! Das Problem der Politik ist somit das gleiche wie das der Wirtschaft. Die Gesamtrichtung zu bestimmen und zu verändern ist nicht die Aufgabe von Staatssekretären oder Ministern. Die Nöte und Notwendigkeiten der Ressorts folgen nicht einer übergeordneten Vernunft, sondern festgelegten Verfahren.
Das dritte Problem erklärt diese achselzuckende Lethargie. Bis in die frühen 1970er Jahre wähnten sich Menschen mit ihren politischen Hoffnungen oder Illusionen dazu im Stande, ein Wirtschaftssystem wie das unsere grundlegend verändern zu können. Im Zeitalter der internationalen Finanzströme, der Global Player und der Europäischen Union sind solche Vorstellungen entzaubert und ermattet. Nicht Regierungen, sondern die Launen der Weltwirtschaft bestimmen heute maßgeblich über Konjunktur und Rezession. Die wirtschaftlichen Gestaltungsspielräume der Nationalstaaten sind immer geringer geworden und damit zugleich auch die politischen. Das ganze System der Europäischen Union basiert auf dem Versuch, den gegenwärtigen Status quo der Marktwirtschaft so verbindlich zu machen, dass Abweichungen und Alleingänge unmöglich werden. Ein solches Wirtschaftseuropa wünscht sich keine sozialen Experimente, sondern es unterbindet sie. Doch was als eine gemeinsame Sandburg gedacht war - die sozialen, auf Solidarität gebauten Nationalstaaten und das sie umfließende Meer des konkurrenzorientierten »freien« europäischen Marktes -, droht zu zerfallen. Die Fluten nagen an den Mauern und unterspülen sie. Immer weniger hält das »und« beides zusammen, und zwar sowohl im Umgang der Staaten miteinander wie auch innerhalb der Länder selbst.
In solcher Lage fehlt der Politik der Glaube daran, etwas ändern zu können, und damit zugleich auch der Wille. Das politische Führungspersonal unterscheidet sich in dieser Hinsicht leider oft kaum von den Bankern der Konkurswirtschaft, die noch
mitnahmen, was sie kriegen konnten: ein paar letzte Privilegien, ein bisschen Machtgefühl, die Versorgungsansprüche.
Das Hauptziel eines Politikers ist nicht der Umbau unserer Gesellschaft, sondern seine Wiederwahl. Und statt neue Ideen in die Gesellschaft zu tragen, buhlt er um den leichtesten Konsens. Mit Visionen und großen Gestaltungsideen hat das nichts zu tun. Kein Wunder, dass sich die Parteien dadurch immer ähnlicher werden. Auf sie kommt es immer weniger an, jedenfalls nicht wirklich. Kein Ort nirgends für eine parteipolitisch gebundene Weltanschauung. Und dieses Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. In anderen westeuropäischen Ländern sieht es nicht anders aus.
Doch warum machen das Volk oder die Menschen das alles noch weiter mit? Weil niemand »das
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