Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Stadt oder ihrem Landkreis.
Es geht also nicht um Kosmetik, sondern darum, Selbstblockaden unseres demokratischen Systems im Zeichen veränderter und neuer Probleme abzubauen. Eine Gesellschaft, die ohne weiteres Wirtschaftswachstum auskommen und ganz neue nachhaltige
und soziale Formen des Zusammenlebens entwickeln muss, braucht nicht nur weniger egoistische Menschen; sie braucht auch Verhältnisse, die es diesen Menschen ermöglichen, ihre soziale Phantasie auszuleben und die Dinge umzugestalten. Durch kommunale Volksentscheide zum Beispiel, die nicht nur blockieren sollen, sondern auch eigene Ideen vorstellen und durchsetzen. Viele dieser basisdemokratischen Elemente sind kein ferner Wunschtraum. In der Schweiz sind sie schon lange vorbildlicher Alltag.
Dagegen stehen die Posten, Einflussmöglichkeiten und Pensionsansprüche von Landespolitikern und eine Landesbürokratie, die niemals freiwillig das Feld räumen werden. Dagegen steht der Bundesrat, der gerne und häufig als ein liebgewonnenes strategisches Blockade-Instrument im Parteiengeklüngel dient. Erinnern wir uns an den Satz von Upton Sinclair: »Es ist schwierig, einem Menschen etwas begreiflich zu machen, wenn sein Gehalt darauf beruht, es nicht zu begreifen.« Der Kampf um die Bundesländer, so darf man vermuten, wird in dieser Hinsicht zur Nagelprobe einer neuen Bürgergesellschaft. Gewinnt sie ihn, so setzt sie damit ein Zeichen für ihre neue Kraft.
Auch weitere Prozesse der Demokratisierung lassen sich dadurch beflügeln, etwa eine Blockade gegenüber der ungebrochen »neoliberalen« Politik der Europäischen Union, insbesondere der Europäischen Kommission. Spätestens seit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam im Jahr 1999 greift die sogenannte »Liberalisierung« und »Deregulierung« mit klarer Marschroute in das Leben unserer Städte ein und kratzt am Selbstbestimmungsrecht. Denn wenn jeder kommunale Konzessionsvertrag europäisch ausgeschrieben werden muss, können unsere Städte kaum noch sinnvolle Standortpolitik betreiben. Was als freier Markt innerhalb Europas deklariert wird, kennt am Ende nur noch wenige Große, die sich den Markt aufteilen.
In Punkten wie diesen geht die Europäische Union schon lange viel zu weit. Dieses Europa brauchen die Bürger weder in
Deutschland noch in Portugal oder Rumänien. Auch hier haben wir es mit einer Demokratieentleerung zu tun, und zwar durch den unnötigen Verlust von Kompetenzen. Statt eines »Europas der Regionen« mit einer starken Ordnungspolitik in Brüssel gibt es heute ein Europa der großen Konzerne mit einer nach wie vor gefährlichen Religion des vermeintlich freien Marktes. Wer aus der Finanzkrise und dem Irrglauben des Neoliberalismus die richtigen Lehren zieht, der muss auch Europa reformieren und neu justieren.
Der Widerstand in vielen Ländern der EU ist längst da. Er richtet sich vielfach gegen das »Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen« (General Agreement on Trade in Services, GATS) der Welthandelsorganisation (WTO). Das 1995 verabschiedete Vertragswerk regelt den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen und drängt überall auf Liberalisierung, vom Strom- bis zum Bildungsmarkt. 400 Gemeinden und Regionen in Frankreich haben sich bereits zu GATS-freien Zonen erklärt, weil sie diese Einmischung nicht wollen. Den gleichen Weg gingen 280 Gemeinden in Österreich. In Göttingen verabschiedete der Rat der Stadt 2002 eine Erklärung gegen die Privatisierung öffentlicher Dienste der Daseinsvorsorge. Bürgerinitiativen in deutschen Städten und Dörfern verhinderten und verhindern erfolgreich dubiose Cross-Border-Leasing-Geschäfte mit ausländischen Unternehmen bei kommunalen Klärwerken, U-Bahnen, Messehallen, Kanalsystemen, Heizkraftwerken und so weiter. In Hamburg-Altona verhinderten im Rahmen der Kampagne »Gesundheit ist keine Ware« die Bürger der Stadt die Privatisierung eines Krankenhauses. Und bei der Wasserversorgung gelang es bis zum Jahr 2004 siebenundzwanzig Mal, durch Bürgerbegehren eine Privatisierung zu verhindern. 7
Viele Entscheidungsstrukturen in den Bundesländern, im Staat und in Europa müssen dezentralisiert werden, damit die Bürger mehr Mitspracherecht bekommen und mehr Möglichkeiten, an der Demokratie
teilzuhaben. Dafür ist es wichtig, die Eigenverantwortung und die finanziellen Mittel der Kommunen zu stärken und neu über die Kompetenzen der Städte, der Bundesländer und des Staates nachzudenken. Die von der
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