Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Europäischen Union propagierte »Liberalisierung« der kommunalen Märkte muss hinterfragt und gegebenenfalls rückgängig gemacht werden.
Doch sind solche gewaltigen Strukturveränderungen tatsächlich realistisch? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen näheren Blick darauf werfen, wie es um unsere Demokratie gegenwärtig bestellt ist …
• Die entfremdete Republik. Woran unsere Demokratie leidet
Die entfremdete Republik
Woran unsere Demokratie leidet
Ein Passagierdampfer kreuzt im Mittelmeer. Kein Luxusschiff, sondern ein Dampfer wie vor vielen Jahrzehnten. Der einzige Luxus auf dem Schiff sind die Liegestühle an Deck. Mal sind sie belegt, ein anderes Mal hat man Glück und ergattert einen. Wochenlang ist es das gleiche Schauspiel. Doch eines Tages ändert sich alles. In einer Hafenstadt steigt eine große Gruppe zu, Menschen, die sich untereinander kennen. Sofort kapern sie alle verfügbaren Liegestühle und breiten sich aus. Muss einer von ihnen von Deck fort, so halten die anderen ihm die Liege mit einem Handtuch frei. Was vorher prinzipiell jedem zugänglich war, wird nun unverfügbar. Ein paar Passagiere empören sich darüber. Die Mitglieder des Liegestuhl-Clans reagieren gemischt. Die einen motzen zurück. Die anderen aber unterbreiten den Unzufriedenen einen Deal. Sie bieten ihnen an, dass einige der bislang Ausgeschlossenen bei der Bewachung der Liegestühle helfen sollen. Zum Lohn dürfen sie die Liegestühle in der Zwischenzeit benutzen. Der eine oder andere lässt sich auf dieses Geschäft ein.
Wo es vorher nur eine gleichberechtigte Gruppe mit gleichen Zugangsmöglichkeiten an Bord gab, gibt es jetzt drei Gruppen: die Liegestuhl-Besitzer, ihre Bediensteten, die ein wenig mit profitieren, und die von den Liegen Ausgeschlossenen. Eine Revolution gegen diese Ordnung erscheint völlig unmöglich. Nicht nur die Liegestuhlbesitzer, sondern auch ihre Angestellten wissen dies zu verhindern.
Diese kleine feine Geschichte stammt aus den 1980er Jahren.
Ausgedacht hat sie der Soziologe Heinrich Popitz (vgl. Mord im Kleingarten. Warum moralische Regeln nie ganz ernst zu nehmen sind). 1 Und ihre Pointe ist sonnenklar. Wenn niemand eine demokratische Ordnung überwacht, so entstehen über kurz oder lang Strukturen der Macht, die diese Demokratie aushebeln. Und wo vorher Gleichberechtigung herrschte, regiert dann eine Oligarchie.
Hat dieses Beispiel etwas mit uns zu tun? Der Idee nach setzen Demokratien, wie jene in der Bundesrepublik, den Willen der Mehrheit eines Volkes um. Sie leben vom Interesse einer Bevölkerung am Gemeinwohl. Sie sind, pathetischer formuliert, die politische Entsprechung einer aufgeklärten Ethik seit den Tagen des Aristoteles: die Chance auf ein erfülltes Leben für so viele Menschen wie möglich. Ist dieses Versprechen in unserem Land eingelöst?
Irgendetwas mit den Liegestühlen und ihrer Verteilung scheint nicht zu stimmen. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge findet jeder dritte Deutsche, unsere Demokratie funktioniere nicht gut. Im Osten des Landes meinen dies sogar 61 Prozent. 2 Eine Umfrage des STERN aus dem Jahr 2009 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Danach meinen gerade 36 Prozent der deutschen Bevölkerung, unsere Demokratie funktioniere »im Großen und Ganzen gut«. Und ein Drittel findet gar: »Wir leben gar nicht wirklich in einer Demokratie, in der das Volk zu bestimmen hat.« 3
Kritischer waren diese Werte in der Geschichte unseres Landes vermutlich nie. Doch das Zeugnis, das viele Menschen der Demokratie in der Bundesrepublik ausstellen, ist nicht der Ausdruck eines Stimmungstiefs. Vielmehr ist es die Bescheinigung einer zunehmenden Entfremdung. Und diese Entfremdung lässt sich erklären: Die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik traut dem Volk aus historisch schlechter Erfahrung nicht richtig über den Weg: kaum Volksbegehren, keine Direktwahl bei hohen Ämtern, kein imperatives Mandat. Aber während das politische System und sein Personal in diesem Misstrauen verharren,
hat sich die Bevölkerung längst gewandelt. Der durchschnittliche Deutsche in den fünfziger Jahren war kein überzeugter Demokrat, aber zufrieden. Heute ist der durchschnittliche Deutsche ein überzeugter Demokrat - und unzufrieden.
Vermutlich wäre dieser Widerspruch nicht so auffällig und verstörend, hätte unser System nicht eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die die Fortsetzung des Altbewährten nicht nur in Frage stellen, sondern
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