Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Bekanntlicherweise führen hierbei nur jene Voten zum Erfolg einer Regierungsbeteiligung,
die die stärkste Partei oder eine mit ihr gebildete Koalition gewählt haben. Der Rest bleibt außen vor. Doch erscheint es nicht zeitgemäßer, die Parteien prozentual zu den erworbenen Stimmen an der Regierung zu beteiligen? Die Idee der Mehrheitsdemokratie entstammt einer Zeit, als unsere Parteien noch durch klare Weltanschauungen und zum Teil unterschiedliche Systemvorstellungen voneinander getrennt waren. Doch wo sind solche Unterschiede noch in allem pragmatischen Ernst gegeben?
In der Schweiz besteht die Regierung seit 1959 aus sieben Mitgliedern, zusammengesetzt nach der Stimmzahl der wichtigsten Parteien. Das Prinzip ist das einer »Konkordanzdemokratie« (von concordare = übereinstimmen). Der Vorteil liegt auf der Hand. Statt sich von morgens bis abends in der Arbeit zu blockieren und alle Energie darauf zu verwenden, dem anderen zu schaden, sind die Parteien gezwungen zusammenzuarbeiten und miteinander klarzukommen. Lassen sich strittige Fragen beim besten Willen nicht entscheiden, so bleibt - je nach Zuschnitt des Themas - das Mittel des Volksentscheids.
Der renommierte US-amerikanisch-niederländische Politikwissenschaftler Arend Lijphart (*1936) von der University of California in San Diego unterzog beide Demokratie-Formen über drei Jahrzehnte einer ausgiebigen Analyse. Danach erweist sich die Konkordanzdemokratie gegenüber der Konkurrenzdemokratie in vielerlei Hinsicht als das überlegene Modell. 7 Gleichwohl ist kaum abzusehen, dass in Deutschland ernsthaft darüber nachgedacht werden wird. »Zu langsam« oder »zu langweilig« sind schnell herbeigezogene Vorurteile, um sich der lästigen Diskussion nicht zu stellen.
Dagegen steht die Vision, was tatsächlich möglich wäre, wenn unsere Parteien gezwungen wären zusammenzuarbeiten statt gegeneinander. Viele lange aufgeschobene Probleme, wie der Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme, der weitere Fortschritt zu einer ökologisch nachhaltigeren Wirtschaftweise, der Abbau
der enormen Staatsverschuldung und so weiter, könnten nun endlich beherzt angegangen werden.
Man mache sich das einmal an dem wichtigen Nahziel klar, unsere Städte innerhalb der nächsten zehn Jahre von Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotoren zu befreien. Technisch stellt eine solche Umstellung auf Elektroautos kein größeres Problem dar. Dass der Umbau trotzdem nicht erfolgt, liegt an der Blockade der Automobilindustrie, am ADAC und weiteren Verbänden, die uns tatsächlich weismachen wollen, die »Freiheit« der Autofahrer mit Verbrennungsmaschinen sei gesellschaftlich wichtiger als die Freiheit aller anderen sowie die Freiheit zukünftiger Generationen, in einer gesunden Umwelt zu leben. Gegen diese Lobby ist eine Konkurrenzdemokratie bislang völlig machtlos. Keine Partei, nicht einmal die GRÜNEN, wagt es, lautstark und ernsthaft dafür zu kämpfen. Wer setzt gegen die jeweilige Opposition durch, dass auch die ökologisch überaus schädlichen Billigflieger Steuern auf ihr Benzin zahlen sollen? Nicht zuletzt, um mit diesen Erlösen das Bahnfahren billiger zu machen. Wer unterbietet den Versprechungswettkampf der Parteien an sozialen Wohltaten für ihre Wähler, der mit immer neuen Schulden bezahlt wird?
Wenn ein System sich von innen heraus als nicht reformfreudig erweist, schaut man nach Lösungen von außen. Eine Möglichkeit in diesem Zusammenhang bestünde darin, den von Amts wegen unparteiischen Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. Die Mehrheit der Bundesbürger ist bekanntlich dafür - in einer Demokratie eigentlich kein ganz unwesentlicher Faktor. Natürlich fürchtet die Regierung völlig zu Recht, der einzige hohe Volksvertreter, den das Volk auch selbst direkt gewählt hätte, erlangte damit einen enormen Gewinn an Bedeutung. Und genau das ist es auch, was wir brauchen: eine überparteiliche Kontrolle und eine interessenunabhängige moralische Führungsfigur. Jemanden, der die Gemüter in diesem Land mit frischen neuen Ideen versorgt, statt den Status quo zu verwalten. Niemand, der beruhigt, sondern der die Beunruhigung der
Menschen ernst nimmt. So etwa könnte er eine Kommission einberufen, in der Experten, die nicht im Verdacht des Lobbyismus stehen, versammelt sind. Gemeinsam können sie die grundlegenden Strukturveränderungen vorschlagen, die die Parteien aus bekannten Gründen von sich aus nicht entwickeln und durchsetzen. Die Vorschläge wären
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