Die Kunst, nicht abzustumpfen
Schrecken und Entsetzen überwältigt, es ist jenseits des Vorstellbaren. Ich möchte rufen: ›Hör auf! Hör doch endlich auf! Das ist doch Wahnsinn! Es muss aufhören!‹ – Ist es nun endlich vorüber? Nein, es war nur eine kleine Unregelmäßigkeit in Elviras Gießbewegung. Die grauenhafte, entsetzliche metallische Lawine geht weiter und weiter und weiter. Tränen laufen mir über das Gesicht, mein Herz hämmert …
Dann ist es vorbei, endlich. Der Raum ist von einer Stille erfüllt, wie ich sie noch nie erlebt habe. Leise höre ich das Weinen anderer Teilnehmenden. Stille. Schweigen.
Nach einiger Zeit kommt mir ein Gedicht von Juan Ramon Jiménez in den Sinn:
Ich habe das Gefühl, dass mein Boot
dort unten in der Tiefe
gegen etwas Großes gestoßen ist.
Und nichts geschieht!
Nichts … Schweigen … Wellen …
– Nichts geschieht? Oder ist alles geschehen,
und wir stehen schon im neuen Leben? 5
Später lädt Elvira die Teilnehmenden ein, ihre Empfindungen und Gedanken während der Hör-Übung mitzuteilen. Im weiteren Verlauf des Workshops wird sie uns dazu anregen, unsere Gefühle auf einem großen gemeinsamen Bild zu malen.« 6
Soweit die Schilderung einer Hör-Übung, Teil eines Workshop, wie sie von einer Teilnehmerin erlebt wurde. Auch wenn Sie diese Hör-Übung nicht selbst gehört haben, konnten Sie hoffentlich einen Eindruck davon gewinnen. Für Teilnehmende ist der Unterschied gewaltig. Vor allem zwischen den ersten beiden Versionen (Zahlen und Graphik) einerseits und der dritten Version (Hör-Übung) andererseits. Dieser Unterschied ist für den Prozess der Hoffnung von grundlegender Bedeutung.
Tatsächlich liegt allen drei Versionen dieselbe Information zugrunde, die jedoch durch verschiedene Medien bzw. Sinnesorgane vermittelt wird und folglich verschiedene Gehirnregionen und -prozesse involviert: Die Graphik (Version zwei) wird durch die Augen aufgenommen und von den Gehirnregionen verarbeitet, die für visuelle Sinneseindrücke zuständig sind. Damit wird primär die Kognition der Teilnehmenden aktiviert. Ebenso bei den Zahlen (Version eins), auch wenn diese vorgelesen
werden: auch hier werden vor allem die kognitiven Gehirnregionen aktiviert, wie z. B. im Mathematik-Unterricht.
Ganz anders ist es mit der Hör-Übung (Version drei): Das Gehör ist das Sinnesorgan, das, anders als die Augen, unmittelbar mit den Gehirnregionen verbunden ist, die für Gefühle zuständig sind. »Die Seele hängt am Ohr«, so der Akustik-Mediziner Gerald Fleischer (1990, 9). Während der Augen-Sinn eher für die kognitiven Anteile einer Information steht, ist das Gehör von wesentlicher Bedeutung in Bezug auf deren emotionale Bedeutung (Kaplan-Solms / Solms 2003, 246). Dieser Unterschied ist von großer Bedeutung für die Art und Weise, wie das menschliche Gehirn die Nachrichten über die Welt verarbeitet.
Nur wo Stille ist, da kann auch ein Weg sein
Nachrichten von der Welt werden vorwiegend durch visuelle Medien verbreitet, die primär die Kognition der Zuhörer ansprechen. Nicht zu hören sind z.B. die Schmerzensschreie der Folteropfer, die verzweifelten Hilferufe der Ertrinkenden, die tatsächliche Gewalt der Detonationen usw.
Vielmehr ist der »Sound« von Nachrichten-Sendungen, auch im Radio, manipuliert; z.B. ist die Lautstärke von Detonationen heruntergefahren (weil andernfalls die Lautsprecher-Membranen und Trommelfelle der Zuhörer zerreißen würden). Hilferufe und Schmerzensschreie in Spielfilmen sind künstlich, von Schauspieler/-innen imitiert. Ebenso die Filmmusik, mit denen die Zuschauer emotional durch Film buchstäblich dirigiert werden: Der Filmkomponist Hans Zimmer (2003) sagt, dass sich gegen gut gemachte Musik niemand wehren kann, da sie direkt auf die Seele der Zuhörenden wirkt. Auch die weiteren Filmgeräusche sind weitgehend falsch, insofern sie künstlich erzeugt und den Bildern nachträglich unterlegt wurden (z.B. Donner oder das Knirschen von Schritten im Schnee).
Zugleich ist das Gehör das Sinnesorgan, das heute in besonderer Weise beschädigt ist: Tag für Tag werden unsere Ohren mit alarmierenden Botschaften bombardiert, gegen die wir uns nicht schützen können, weil der Mensch keine »Ohren-Lider«hat. Lärm (von »a l’àrme«: zu den Waffen) hat ursprünglich die Aufgabe, den Menschen vor drohenden Gefahren (etwa einem herannahenden großen Tier) zu warnen. Daher führt Lärm dazu, dass im Gehirn die Regionen aktiviert und die Hormone ausgeschüttet
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