Die Kurtisane des Teufels
nach London, aber mit acht Schillingen war er um die Hälfte billiger als die Postkutsche, die die Strecke in zwei Tagen bewältigte.
Als der Fuhrmann sein Pony bestieg und die Peitsche schwang, setzten sich die sechs Pferde gehorsam in Bewegung. Kurze Zeit später entzog eine Biegung Kitty den Blick auf die kleine Provinzstadt, in der sie aufgewachsen war. Eine dumpfe Ahnung, dass sie Stamford nie wiedersehen würde, überkam sie und ließ erneut Tränen in ihre Augen steigen.
Vier Tage später fuhr der Rollwagen um die Mittagszeit in den Hof des »Bell Inn« auf der Wood Street nahe Cheapside. Die Herberge war drei Stockwerke hoch, so dass kaum ein Sonnenstrahl auf das Pflaster des Innenhofs fiel. Mit prächtig geschnitzten Geländern versehene Galerien ermöglichten den Zugang zu den Gastzimmern.
Als Kitty vom Wagen hinabstieg, schwirrte ihr der Kopf vom Lärm der Großstadt und dem Trubel ihrer Einwohner. Noch nie hatte sie so viele Menschen auf einmal gesehen. Im Hof des »Bell Inn« herrschte reges Treiben. Stallknechte striegelten Pferde oder spannten sie vor Kutschen und Fuhrwerke, Lastenträger be- und entluden Frachtwagen, schleppten Bündel und Kisten oder rollten Fässer über das Kopfsteinpflaster. Auf den Galerien standen müßige Herbergsgäste und schauten dem Gewimmel zu.
Schon bei der Durchquerung der nördlichen Vororte hatte Kitty über die Zahl an Fuhrwerken, Kutschen und Reiter gestaunt. Es roch nach Kohlenrauch, Abwässern und Pferdemist. Der Gestank war schlimmer, als Kitty es sich je vorgestellt hätte. Über den Straßen lag eine schwere Dunstwolke, die von dem Rauch der unzähligen Herdfeuer verursacht wurde und die Fassaden der Häuser dunkel färbte. Unwillkürlich fragte sich das Mädchen, wie die Wäscherinnen das Linnen sauber bekamen, mit dem sich die Menschen so überschwenglich schmückten. Überall sah sie weiße Hauben, Manschetten und Schürzen. Viele der vornehmen Herren trugen schneeige Spitzenjabots zur Schau, und die Rüschen ihrer feinen Leinenhemden quollen üppig unter den Ärmeln ihrer farbenprächtigen Röcke und den nur nachlässig zugeknöpften Westen hervor. Aber Kitty sah auch Bettler in schmutzigen, fadenscheinigen Kleidern, von denen sich viele aufgrund eines körperlichen Gebrechens nur mühsam fortbewegten, und Kinder mit dreckverschmierten Gesichtern und nackten Füßen. Der Anblick des Elends erschreckte das Mädchen und verstärkte die Sehnsucht nach der Gesellschaft ihres Bruders.
Während Kitty wartete, dass ihre Reisetruhe abgeladen wurde, sah sie sich neugierig im Hof der Herberge um. Stallburschen und Lastenträger eilten an ihr vorüber, ohne von ihr oder einem der anderen Passagiere Notiz zu nehmen. Da bemerkte Kitty auf einmal eine Gevatterin, die wie die Herbergsgäste auf den Galerien unbeteiligt inmitten des geschäftigen Treibens stand und aufmerksam die Reisenden betrachtete, die mit dem Rollwagen aus der Provinz gekommen waren. Als ihr Elsternblick an Kitty hängenblieb, teilte ein zufriedenes Lächeln die Lippen der Frau, und sie näherte sich dem Mädchen mit herzlicher Miene.
»Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise, gutes Kind«, sagte sie freundlich.
Erstaunt über die Vertraulichkeit, musterte Kitty die Alte von Kopf bis Fuß. Sie mochte um die fünfzig sein. Ihre Züge wirkten verlebt, und unter der feinen Haube stahlen sich einige Strähnen grauen Haares hervor. Die Gevatterin trug ein Kleid aus schimmernder Seide, das ein Vermögen gekostet haben musste. Kitty hatte noch nie einen so edlen Stoff gesehen. Bänder und Schleifen schmückten das Mieder, dessen Ausschnitt einen faltigen Busen sehen ließ. Das Gesicht der Frau war stark geschminkt, und auf Schläfe, Wange und Stirn fanden sich schwarze Flecken aus Seide, die Sonnen, Herzen und andere Dinge darstellten. Kitty kannte diese Schönheitspflästerchen nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. Diese hatte ihrer Tochter nach einem Aufenthalt in London einmal das modische Beiwerk beschrieben, mit dem sich die reichen Leute so gerne herausputzten. Offensichtlich hatte Kitty eine vornehme Dame vor sich.
»Woher kommt Ihr, meine Liebe?«, fragte die Gevatterin mit unverhohlener Neugierde.
Kitty, die zu gut erzogen war, um sich ihr Unbehagen angesichts der Unverblümtheit der Fremden anmerken zu lassen, antwortete höflich: »Aus Stamford, Madam.«
»Da habt Ihr eine lange Reise hinter Euch«, erwiderte die Alte. »Und wie ich sehe, bringt die Provinz nach wie vor die
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