Die Lady in Weiß
etwas durchzukommen?“, fragte Jeremiah. „England ist doch ein zivilisiertes Land, oder? Ein Mann kann doch nicht einfach eine Frau entführen, nur weil er sie bei sich haben will! “
Das Mädchen sah ihn mitleidig an. „Sie sind kein Engländer, Sir, oder? Ich höre das an der Art, wie Sie sprechen. Sind Sie Ire?“
„Nein, Amerikaner. Und dort, wo ich herkomme, ist eine Lady sicher vor Schurken wie deinem Mr Stanhope.“
„Sie sind Amerikaner! Na, dann ist es kein Wunder, wenn Sie uns nicht verstehen!“ Sie sprach mit fester Stimme, als müsste sie ihn belehren. „In England kennt jeder seinen Platz“, erklärte sie. „Leute wie Mr Stanhope haben andere Rechte als Sie und ich. Er wird eines Tages einen Adelstitel tragen, und deswegen kann er mit seiner neuen Geliebten machen, was er will. Niemand wird ihn deswegen verurteilen. Es gibt kein Gesetz gegen solche Leute. Können Sie sich vorstellen, dass ein Schutzmann bei Mr Stanhope klopft und einen Haftbefehl vorlegt, weil er einer Lady die Kleider weggenommen hat? Dieser Schutzmann müsste sich ziemlich schnell nach einer neuen Arbeit umsehen.“
Sie kicherte wieder, und Jeremiah zwang sich, ihr zuzulächeln. Was die Kleine sagte, entsprach den Tatsachen. Er war überzeugt, dass Lady Byfield gegen ihren Willen festgehalten wurde, aber wie sollte er einen Richter finden, der etwas gegen George Stanhope unternahm? Wenn er wollte, dass sie freikam, musste er selber dafür sorgen.
Jeremiah strich dem Mädchen über die Wange. „Ich wünsche dir einen schönen Tag, Kleines. Die Lady, nach der ich suche, ist nicht blond, sondern dunkelhaarig, aber trotzdem vielen Dank für deine Hilfe.“
Er zog den Hut und wandte sich zum Gehen, aber sie war schneller und versperrte ihm mit ihrem Korb den Weg. „Sir. warten Sie! “, sagte sie und lächelte kokett. „Ich heiße Betsy White, Sir, und heute ist mein freier Abend. Ich will meine Schwester besuchen, sie wohnt in der Tower Street, im letzten Haus, gleich bei der Pumpe. Sie hat nichts dagegen, wenn mich ein Freund besucht.“
„Also dann, Miss Betsy.“ Es war ihm gelungen, sich an dem Mädchen und ihrem Korb vorbeizuschieben. „In der Tower Street, heute Abend. Ich werde es nicht vergessen.“
Das würde er bestimmt nicht. So erkannte ihn wenigstens niemand, wenn er heute Abend in Stanhopes Haus kam, um Lady Byfield zu holen.
Ein Krieg drohte auszubrechen. Daher lagen im Hafen von Portsmouth viele Schiffe, um ein letztes Mal überholt zu werden und Proviant zu laden. Mit den Schiffen kamen Seeleute in die Stadt, und die Straßen waren voller Männer, die wild und hemmungslos ihren letzten Landgang genossen. Die Schiffe waren für die Blockade der französischen Küste bestimmt, und da würde es nicht viel Abwechslung geben.
Jeremiah war dankbar für das ausschweifende Treiben der Seeleute. Obwohl die Bewohner von Portsmouth das Verhalten der Matrosen im Allgemeinen gelassen hinnahmen, würden in dieser Nacht die ehrbaren Bürger doch lieber zu Hause bleiben. Daher fiel selbst in dieser ruhigen Straße ein
Mann, der versuchte, sich im Schatten der Häuser zu verbergen, nicht weiter auf.
Jeremiah wartete im Park gegenüber von Stanhopes Haus, bis die letzten Vorhänge zugezogen und alle Lichter im Haus gelöscht waren. Zu seiner Überraschung fuhr Stanhope zusammen mit Freunden in einer Kutsche davon. Eigentlich hätte er erleichtert sein sollen, dass Stanhope Caro allein gelassen hatte, aber er war enttäuscht. Er hatte gehofft, den Kerl in seinem eigenen Haus verprügeln zu können. Er tastete noch einmal nach den Pistolen in seinem Gürtel, dann überquerte er die Straße und klopfte an die Vordertür.
Ein verschlafen aussehender Lakai öffnete die Tür einen Spaltbreit und blinzelte Jeremiah unter der verrutschten Nachtmütze hervor an. „Mach, dass du wegkommst“, befahl er mit einem Blick auf die grobe Seemannskleidung, die Jeremiah trug, „sonst schicke ich dir die Wache auf den Hals. Solche wie dich wollen wir hier nicht.“
Als er die Tür wieder schließen wollte, warf Jeremiah sich mit der Schulter gegen das schwere Eichenholz. Dann drückte er dem Mann den Lauf einer Pistole zwischen die Rippen. Der Lakai schnappte nach Luft und starrte auf die Waffe. Er ließ die Tür los und wich zurück. „Verschonen Sie mich, Sir, ach, bitte, töten Sie mich nicht! “
Jeremiah stieß ihn beiseite und schloss die Tür hinter sich. Unter dem bläulichen Schein des Nachtlichtes, das von der Decke
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