Die Lagune Der Flamingos
in der Calle Belgrano. Hunderte mit Gewehren bewaffnete Leute, die alle vom Bahnhof zur Plaza zogen, waren da plötzlich unterwegs, erzählte er mir später. Kaum hatten sie die Plaza erreicht, fielen die ersten Schüsse.
Ihr wisst gar nicht, wie froh ich bin, dass ich nicht dabei war, sondern draußen auf Tres Lomas. Und ihr könnt euch vorstellen, wie glücklich ich war, dass Pedro unbeschadet zu mir zurückkam. Allerdings wusste er erst gar nicht, wie aus der Stadt kommen. Etwa gegen neun Uhr, berichtete er, begann ein ununterbrochenes Gewehrfeuer sowohl auf der Plaza als auch in den sie begrenzenden Straßen. Beständig pfiffen die Kugeln, und er konnte seine Deckung nur unter schwierigsten Umständen verlassen.
Irgendwie gelang es ihm, aber wirkliche Ruhe trat erst einen Tag später ein. Am Nachmittag begleitete ich Pedro dann nach Tucumán, um mir selbst ein Bild von der Lage zu machen. Natürlich wollte er mich davon abhalten, aber ihr kennt mich ja.
Es war ein wirklich trauriger Anblick. In den um die Plaza befindlichen hübschen Läden waren fast sämtliche Scheiben zerschossen. Die Mauern waren voller Kugellöcher, und das große Cabildo war vollkommen verwüstet. Außerdem hatte man mehrere Privatwohnungen höherer Beamter sowie die des Gouverneurs geplündert und zerstört. Ein Glück, dass nur wenige Menschen getötet worden waren.
Nun befürchtet man, dass die vielen in die Stadt gekommenen Gauchos und Soldaten auch Privathäuser plündern und weitere Exzesse begehen könnten. Deshalb haben hier ansässige Bürger Sicherheitswachen gebildet, die auf den Straßen patrouillieren.
Ich muss ganz ehrlich sagen, früher hätte ich das vielleicht für ein großes Abenteuer gehalten, heute schlägt mein Herz schneller, und ich bete darum, dass die Sache bald ganz überstanden ist. Ihr könnt jetzt gern lachen, aber auch ich habe etwas gelernt in meinem Leben.
In jedem Fall hat die neue Regierung Celman sofort alle Beamtenstellen an ihre Anhänger verteilt. Für sie wird es wohl eine goldene Zeit werden. Wir kennen das ja inzwischen nur zu gut.
Ich küsse euch und halte euch in den Armen, liebste Freunde!
Eure Viktoria
Neuntes Kapitel
Der Aufruhr war endlich vorüber, und Viktoria war froh darum. Gemeinsam mit Pedro und einigen anderen erwartete sie Pacos und Blancas Ankunft aus Buenos Aires. Nachdem die beiden La Dulce verlassen hatten, waren sie noch einige Zeit bei Anna geblieben. Paco hatte seine Arbeit für den Rechtsanwalt wieder aufgenommen, und Blanca hatte die Familie Meyer-Weinbrenner besser kennengelernt. Ungeduldig hatte Viktoria mehrmals telegrafiert, bis ihr Sohn endlich versprochen hatte, seine Eltern in naher Zukunft zu besuchen. Dann war der Aufruhr dazwischengekommen, aber jetzt …
Viktoria ließ den Blick durch das Bahnhofsgebäude schweifen. Eine zerlumpte Frau, ein Kind in einem Tuch auf dem Rücken, zwei weitere hielten sich an ihrem Rock fest, kam mit gesenktem Kopf und ausgestreckter Hand auf sie zu. Viktoria kramte in ihrem Beutel nach ein paar kleinen Münzen, die sie für solche Fälle immer bereithielt. Die Frau bedankte sich überschwänglich. Viktoria seufzte. Ach, es war doch immer noch nicht alles eitel Sonnenschein: Der Zuckerrohranbau konzentrierte sich nach wie vor in den Händen weniger reicher Landbesitzer. Von Mitte Mai bis August jeden Jahres strömten zusätzliche Erntearbeiter aus dem ländlichen Santiago del Estero, aus der Puna von Salta und Jujuy, von den Indio-Dörfern des Chaco und von der bolivianischen Grenze hierher. Ganze Familien kampierten dann für die Zeit der Ernte unter freiem Himmel, um nach schwerer Arbeit mit viel zu wenig Geld nach Hause zurückzukehren. Es war durchaus nicht falsch, in diesem Zusammenhang das Wort Sklaverei in den Mund zu nehmen. Viktoria ahnte schon, dass Paco wieder viel an der Situation zu kritisieren haben würde. In ihm brannte noch das Feuer der Jugend, während sich Pedro und sie mittlerweile mit kleineren Schritten zufriedengaben.
Nach dem Mittagessen saßen sie alle – Viktoria, Pedro, Blanca und Paco – im schattigen Hof von Tres Lomas und tauschten sich aus. Zu einer frisch zubereiteten Limonade aus Zitronen aus dem eigenen Garten hatte Viktoria eine Karaffe Wasser aus dem hauseigenen aljibe , jener Kombination aus Brunnen und Untergrundzisterne, bereitstellen lassen. Sie fand, dass es köstlich schmeckte.
Blanca sah immer noch sehr schmal aus, hatte aber ein volleres Gesicht bekommen. Viktoria fragte sich
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