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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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und wortlos zu Abend aßen, während sie beharrlich meinem Blick auswich, meine Hand nach der ihren ausgestreckt. Instinktiv, wie eine Schnecke, die sich bedroht fühlt, zog Jessica dann ihren Arm zurück und schob ihn unter den Tisch. Und ich bewahrte die Ruhe, aus Angst, den Bruch noch zu vertiefen.
    Wie schön sie war, Jessica. Ich verging fast vor Lust, sie in den Arm zu nehmen. Ich dürstete nach ihr, nach ihrem wollüstigen, sich hingebungsvoll verströmenden Körper. Der Duft ihres Haars, ihr Geruch, das Blau ihrer Augen, alles an ihr fehlte mir. Ich starb fast vor Sehnsucht, obwohl sie zum Greifen nah war. Und verlor sie aus den Augen, sobald sie mir den Rücken kehrte. Ich wusste nicht, was ich noch tun sollte, um sie zurückzuerobern.
    Unser Haus war wie ein Mausoleum, dessen Eingang versiegelt war, mit mir als Störenfried und Gefangenem zugleich. Ich wusste nicht ein noch aus. Fühlte mich ausgeschlossen und völlig überflüssig. Ich konnte mir nur noch die Augen reiben, während meine Sonne Strahl um Strahl erlosch und das Dunkel der Kulissen die Bühne überzog, auf der meiner Heldin die Sprache abhandengekommen war. Jessica hatte ihren Text vergessen. Doch zu ihrem Schweigen passte keine Rolle. Nur eine Hülle war übrig von ihr, eine Hülle aus Fleisch, so unerforschlich wie eine Erinnerung, die zu keiner Geschichte mehr gehört. Woran mochte sie denken? Warum war sie so angespannt? Wieso hatte sie es immer so eilig, zu Bett zu gehen, und ließ mich im Wohnzimmer unter einer Lawine unbeantworteter Fragen zurück?
    Allabendlich saß ich einsam vor dem Fernseher und zappte mich gelangweilt durchs Programm, so lange, bis mir der Kopf dröhnte. Wenn ich nicht mehr konnte, ging ich zu Bett und lauschte eine Ewigkeit lang auf den Atem der schlafenden Jessica. Sie war prachtvoll anzusehen in ihrem Schlaf. Eine Gabe Gottes, vom Himmel gefallen, nur war es mir verboten, sie zu berühren. Von allen Ängsten befreit, gewann ihr Gesicht seine feenhafte Frische und menschliche Wärme zurück. Es war der schönste Anblick, den ich mir wünschen konnte in der Tiefe dieser Nacht, die mich der Welt entriss.
    Am nächsten Morgen war sie schon fort. In der Küche fand ich nur die Reste ihres Frühstücks und am Kühlschrank einen Zettel: Warte heute Abend nicht auf mich. Es kann spät werden … Dazu ein roter Kussmund.
    Und so versprach mein Tag ebenso reizlos zu werden wie der verflossene Abend.
    Ich war praktischer Arzt. Meine Praxis befand sich in einem luxuriösen Gebäude in Frankfurt-Sachsenhausen, nur wenige Häuserblocks vom Henninger-Turm entfernt. Sie erstreckte sich über das ganze Erdgeschoss und besaß ein geräumiges Wartezimmer, das über zwanzig Patienten Platz bot. Emma, meine Sprechstundenhilfe, eine hochgewachsene Frau mit muskulösen Beinen, war eine echte Perle, die ihre beiden Kinder allein großzog, nachdem der Ehemann sie verlassen hatte, und nebenher meine Praxis so penibel in Schuss hielt, als wäre es eine Intensivstation.
    Es warteten schon zwei Patienten auf mich, ein fahler Greis im Mantel und eine junge Frau mit ihrem Baby. Der Alte wirkte, als hätte er die Nacht auf dem Fußabtreter vor der Praxis verbracht, um mich abzupassen. Er erhob sich, sobald er mich sah.
    Â»Ich habe schreckliche Schmerzen, Herr Doktor. Die Tabletten, die Sie mir verschrieben haben, wirken nicht mehr. Was soll nur werden, wenn es kein passendes Medikament für mich gibt?«
    Â»Eine Minute, dann bin ich bei Ihnen, Herr Egger.«
    Â»Ich bin in großer Sorge, Herr Doktor. Was ist nur mit mir los? Kann es sein, dass Ihre Diagnose nicht stimmt?«
    Â»Ich halte mich an die Anweisungen des Krankenhauses, Herr Egger. Wir sehen uns das gleich mal an.«
    Der alte Mann nahm wieder Platz und vergrub sich in seinem Mantel. Der jungen Mutter, die ihn entrüstet anblickte, erklärte er:
    Â»Ich war früher da.«
    Â»Mag ja sein«, entgegnete sie, »aber ich habe einen Säugling dabei.«
    Während der Sprechstunde musste ich permanent an Jessica denken. Ich konnte mich überhaupt nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Emma merkte, dass es mir nicht gutging. Gegen Mittag redete sie mir zu, essen zu gehen und ein wenig abzuschalten. Ich suchte ein kleines Restaurant in der Nähe des Römerbergs auf. Am Nebentisch saß ein Pärchen, das sich pausenlos mit gedämpfter Stimme

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