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Die Landkarte der Finsternis

Die Landkarte der Finsternis

Titel: Die Landkarte der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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dort einmal anfragen, wenn Sie sich einsam fühlen. Sie hätten Gesellschaft, wären versorgt, und …«
    Â»Sie meinen Altersheime? Sterbehäuser sind das! Nichts für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, in der Tristesse dieser Heime vor mich hin zu siechen. Nein, das würde ich nie akzeptieren, dass man mich zu festgesetzter Stunde ins Bett bringt, mich wie ein Gemüse an die frische Luft setzt und mich in die Nase zwickt, damit ich meine Suppe esse. Ich habe auch meinen Stolz. Und ich will nicht von anderen abhängig sein. Ich will hocherhobenen Hauptes gehen, auf beiden Beinen, ohne Nadeln in den Venen oder Beatmungsschläuche im Gesicht. Ich will den Zeitpunkt und die Art und Weise selbst bestimmen …«
    Sie schob meinen Arm zurück und stand auf, wütend über sich selbst. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, doch sie bat mich, sie gehen zu lassen, und verließ die Praxis ohne ein weiteres Wort. Ich hörte, wie sie die Stufen hinunterging, die Haustür öffnete und hinter sich zuschlug. Ich wartete darauf, sie auf der Straße vorbeikommen zu sehen, doch sie kam nicht, wie sonst immer, an meinem Fenster vorbei, vermutlich war sie in die andere Richtung gegangen. Eine abgrundtiefe Traurigkeit bemächtigte sich meiner, und schnell rief ich den nächsten Patienten auf.
    Es war schon dunkel, als Emma hereinkam und wissen wollte, ob sie Feierabend machen könne.
    Ich entließ sie mit den Worten: »Dann bis morgen.«
    Nachdem Emma gegangen war, blieb ich noch eine halbe Stunde im Büro, ohne viel zu tun zu haben. Jessica würde erst spät nach Hause kommen, und ich wusste nicht recht, was ich mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Ich löschte alle Lichter mit Ausnahme der Schreibtischlampe. Das entspannte mich ein wenig. Ich lauschte gern der Stille im Gebäude, einer Stille, die von Schatten und von Abwesenheit geprägt war und alles ringsum zu läutern schien. Rundherum lebten auf fünf Eta­gen mit plüschig ausgelegten Korridoren Menschen, und doch drang nicht ein Geräusch zu mir durch. Sie vergruben sich in ihren vier Wänden. Leute in fortgeschrittenem Alter, betucht und von unglaublicher Diskretion. Manchmal begegnete ich dem ­einen oder anderen von ihnen im Treppenhaus, stets in sich gekehrt, oft kaum erkennbar unter ihren Hutkrempen, immer beflissen, mir aus dem Blickfeld zu gehen, sich fast schon dafür entschuldigend, meinen Weg zu kreuzen.
    Auf meiner Armbanduhr war es 20 Uhr. Ich hatte keine Lust auf zu Hause, auf ein in nächtliches Dunkel gehülltes Wohnzimmer und ein ödes Fernsehprogramm, hatte keine Lust, alle fünf Minuten auf die Wanduhr zu schauen und, sobald auf der Straße ein Auto bremste, zu glauben, Jessica komme heim.
    Ich warf einen Blick auf das Porträt meiner Frau im Bilderrahmen. Ein Foto, das zwei Jahre nach unserer Hochzeit an ­einem italienischen Strand entstanden war. Jessica, die auf ­einem Felsen ein Sonnenbad nimmt, von schäumenden Wellen umtost, und deren blondes Haar sich über Schultern ergießt, deren Transparenz jedem Bräunungsversuch widersteht. Einer Sirene auf einer Wolke gleich, mit strahlendem Lächeln, die Augen weiter als der Horizont … Was nur stimmte plötzlich nicht mehr? Seit sie den Posten als stellvertretende Leiterin der Abteilung für internationale Beziehungen in ihrem multinationalen Konzern angetreten hatte, war Jessica wie verwandelt. Sie war viel auf Reisen, zwischen Hongkong und New York, Skandinavien und Lateinamerika unterwegs, ging völlig in ihrer Arbeit auf, opferte ihren Urlaub, nahm stapelweise Akten mit nach Hause und studierte ihre Unterlagen mit detektivischer Akribie. Manchmal verschwand sie stundenlang hinter verschlossener Tür in ihrem kleinen Arbeitszimmer, als wären die Geschäfte, die ihr anvertraut waren, top secret.
    Ich griff nach meinem Mantel, wickelte mir den Schal um den Hals, knipste die Schreibtischlampe aus und ging am Aufzug vorbei, der geduldig auf einen Benutzer wartete, ins Freie.
    Draußen fegte ein eisiger Wind das Mauerwerk entlang. Ich zog mir schnell den Mantel über und lief die Straße hoch bis zur kleinen Kneipe am Platz. Toni, der Inhaber, begrüßte mich mit breitem Lächeln. Er zog den Zapfhahn und stellte ein schäumendes Glas Bier vor mich auf den Tresen. Ich kam regelmäßig, um seine Meeresfrüchte zu genießen, wenn es bei Jessica abends mal

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