Die Landkarte der Finsternis
rege mich auf, träume, reagiere ⦠Bin der glücklichste Mensch der Welt. Nein, ich werde nicht als Einäugiger sterben. Und ich werde durch Teilen zur Reife gelangen ⦠Meine Hände zittern, meine Finger verhaspeln sich auf der Tastatur, ich kann kaum die Buchstaben erkennen. Logisch, mir flieÃen die Tränen â¦
Ich antworte Elena: Ich komme!
Die zahllosen Schritte, um beim Roten Kreuz akkreditiert zu werden, haben mich erschöpft. Dazu der Kampf um mein Visum, denn das sudanesische Konsulat war nicht sehr angetan von meiner geplanten Rückkehr in den Sudan. Aber das alles liegt jetzt hinter mir. Ich sitze im Flugzeug, und das Flugzeug rollt soeben über die Startbahn. Als der Pilot Gas gibt, denke ich gerade an Blackmoon. Ich sehe ihn vor mir mit seinem Säbel und dem leeren Brillengestell, wie er auf einem Felsblock sitzt oder sich an der Wand entlangdrückt; erinnere mich an unser erstes Gespräch in der Grotte, als er mir von seinem Vater und von dessen Verehrung für Franz Beckenbauer erzählte; an seine Leidenschaft für Bücher, obwohl er nie welche würde lesen können; an den Dorfschullehrer, der er gern geworden wäre; und an seine unberechenbaren Launen, die ihn mal zum netten Jungen, mal zum impulsiven Gangster machten. Ein merkwürdiger Jugendlicher! Und dann dieses arglose Lächeln, das manchmal flüchtig aufblitzte und seinen eiskalten Blick überstrahlte, den ich keine zwei Sekunden lang aushalten konnte, ohne dass mir unwohl wurde. Wollte er mir eine Botschaft übermitteln und wenn ja, welche? War es ein Hilferuf, den ich nicht zu entschlüsseln gewusst hatte? Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in Gerimas Kerker meine Aufmerksamkeit auf das Stück Brot lenkt, in dem er Hans Mackenroths Zettel versteckt hatte: Halte durch. Jeder Tag ist ein Wunder. Oder wie er auf unserer kopflosen Flucht in den Tod Joma zur Vernunft zu bringen versucht. Joma, der unseligerweise woanders nach dem suchte, wonach er doch nur die Hand hätte ausstrecken müssen; Joma, dieser aus der Art geschlagene Dichter, der fest glaubte, dass des Dichters Wort dem Schicksal Paroli bietet und der, hätte er nur auf sich selbst gehört, begriffen hätte, dass kein Gewehr weiter reicht als ein gutes Wort ⦠Das Flugzeug hebt ab. Neben mir blättert eine junge Frau gelassen in ihrer Zeitschrift. Ein Kind beginnt zu weinen. Ich schlieÃe die Augen und katapultiere mich in die afrikanische Wüste, die so glühend ist und so sinnenverwirrend wie hochgradiges Fieber. Bruno tanzt nackt unter dem Marabut-Baum, wie ein Dschinn, und streckt mir sein bleiches Hinterteil entgegen. Das ist das echte Afrika!, ruft er, während er auf den jungen Karrenzieher zeigt, der seine Mutter auf dem Rücken trägt und in diesem Moment den Opfergeist schlechthin verkörpert, in seiner vornehmsten, heroischsten Gestalt. Der gute Bruno, niemand versteht es wie er, einem im Elend versunkenen Land Adel und Würde zurückzugeben und die Tiefendimension jener Dinge auszuloten, von denen man nichts als die Oberfläche sieht. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Mitsamt seiner altmodischen Romantik, seinem überschwenglichen Patriotismus und seinem unausrottbaren Optimismus. Von hier aus kann ich ihn sehen, wie er mich mit himmelweit ausgebreiteten Armen empfängt, mit offenem Herzen, offener Hand und dem sprudelnden Urquell des Lebens in der Faust, stolz darauf, so zu sein, wie er ist, mit seiner asketischen Langmütigkeit und seinen opiumgeschwängerten Träumereien. Wir werden uns am Lagerfeuer niederlassen, und während ich den Himmel nach einem Sternbild absuche, das für mich geschaffen ist, wird er mir von Aminata erzählen, deren Augen wie tausend Juwelen blitzten; von Souad, der Tänzerin, die ihre Liebe, ohne zu zögern, dem Versprechen eines Zuhälters geopfert hat; von den verruchten Kaschemmen, in denen er seinen Rausch und seinen Kummer ausschlief; von unbezähmbaren Völkern, die ihrer Wege ziehen wie der Wüstenwind Harmattan; von fauligen Strohhütten, in denen es zu jeder Tages- oder Nachtzeit Kost gab und Logis; und von all den Menschen, von denen ich nur die Lumpen sah, ohne zu ihrer Seele vorzudringen ⦠Ich denke an Lotta und Orfane, an Bidan, den Schlangenmenschen, Forha, den Einarmigen, und an den alten Haudegen Mambo, wie er mit seinem mächtigen Leib auf seiner schmalen Pritsche lag, an seinen
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