Die Landkarte der Finsternis
stritt. Dann tauchte auch noch eine Familie mit einer lärmenden Kinderschar auf, und ich bat schnell um die Rechnung.
Ich ging in einen Park neben dem Restaurant, suchte mir eine Bank und blieb dort sitzen, bis eine Gruppe jugendlicher Touristen meine Ruhe störte. In der Praxis saÃen schon drei Patienten auf glühenden Kohlen. Vorwurfsvoll blickten sie auf ihre Armbanduhren, um mir klarzumachen, dass ich über eine Stunde Verspätung hatte.
Gegen 17 Uhr empfing ich Frau Biribauer, eine meiner ältesten Patientinnen. Sie kam absichtlich immer erst gegen Ende der Sprechzeit, um in aller Ruhe mit mir ihre Sorgen und Nöte zu besprechen. Sie war eine muntere Mittachtzigerin, sehr höflich und immer ausgesucht gekleidet. An diesem Tag aber kam sie ungeschminkt, trug ein zerknittertes Kleid und blickte griesgrämig drein. Ihre welken kleinen Hände waren von blauen Flecken übersät. Sie erklärte mir als Erstes, sie sei nicht gekommen, um ärztlichen Rat einzuholen, und entschuldigte sich, mich wieder und wieder mit ihren Einsame-alte-Tante-Geschichten zu »nerven«, bevor sie sich nach kurzem Nachdenken erkundigte:
»Wie ist das eigentlich, wenn man tot ist, Herr Doktor?«
»Aber, aber, Frau Biribauer â¦Â«
Sie unterbrach mich mit einer Handbewegung:
»Wie ist das mit dem groÃen Schlaf?«
»Bis heute ist niemand von dort zurückgekommen«, erwiderte ich. »Aber beruhigen Sie sich, so weit sind wir doch noch lange nicht. Sie haben nur einen kleinen gutartigen Tumor, von dem nach einer anständigen Behandlung nichts mehr übrig sein wird.«
Sie zuckte zurück, um meiner Hand auszuweichen, die ich ihr auf die Schulter legen wollte, und fing erneut an:
»Ich bin nicht wegen diesem Ding unter meiner Achsel zu Ihnen gekommen, Herr Doktor. Ich denke ernsthaft über den Tod nach. Seit ein paar Tagen denke ich an nichts anderes mehr. Ich versuche mir vorzustellen, wie er wohl ist, der groÃe Sprung ins groÃe Dunkel, ins groÃe Nichts, aber es will mir einfach nicht gelingen.«
»Sie sollten an andere Dinge denken, Frau Biribauer. Sie sind doch robust und haben noch viele schöne Jahre vor sich.«
»Die schönen Jahre sind die, die man mit seinen Lieben verbringt, Herr Doktor. Woran sollte ich denn Ihrer Meinung nach denken? Was gibt es denn sonst noch?«
»Nun, Ihren Garten.«
»Ich habe keinen Garten.«
»Oder Ihre Katze, Ihre Blumentöpfe, Feste und Feiertage, Ihre Enkelkinder â¦Â«
»Ich habe niemanden mehr, Herr Doktor, und meine Balkonblumen bringen mir den Frühling auch nicht zurück. Mein Sohn, der keine halbe Stunde von hier entfernt wohnt, besucht mich schon lange nicht mehr. Wenn ich ihn anrufe, sagt er, die Arbeit fresse ihn auf, und er habe nicht eine Minute Zeit für sich selbst ⦠Und so habe ich alle Zeit der Welt, um mich zu fragen, wie das groÃe Nichts wohl so ist â¦Â«
Sie verknotete ihre Finger ineinander und fügte hinzu:
»Die Einsamkeit ist ein schleichender Tod, Herr Doktor. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch von dieser Welt bin.«
Lange hielt sie meinem Blick stand, bevor sie endlich ihre Augen abwandte.
Ich ergriff ihre Hände; und sie überlieà sie mir, als hätte sie keine Kraft mehr, sie zurückzuziehen.
»Vergessen Sie diese schlimmen Gedanken, Frau Biribauer«, beschwichtigte ich sie. »Sie quälen sich sinnlos. Alles spielt sich in Ihrem Kopf ab. Bewahren Sie sich Ihren Optimismus. Sie waÂren doch stets tapfer und klarsichtig. Sie haben gar keinen Grund, jetzt zu verzagen. Glauben Sie mir, das Leben mit all seinen Freuden und Nöten ist es wert, bis ganz zum Ende gelebt zu werden.«
»Eben, Herr Doktor, eben, und dieses Ende, wie mag das wohl sein?«
»Ist das denn jetzt so wichtig? Sie sollten sich mehr um Ihre Blumen kümmern. Dann sähe Ihr Balkon gleich viel heiterer aus. Und jetzt lassen Sie mich mal sehen, wie unser kleiner Tumor auf die Behandlung reagiert hat.«
Sie zog ihre Hände weg und gestand seufzend:
»Ich habe auf die Behandlung verzichtet.«
»Wie das?«
Sie zog die Schultern hoch wie ein trotziges Kind:
»Ich habe das Rezept verbrannt, sobald ich zu Hause war.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«
»Nichts ist mehr ernst, wenn Sie keinen Menschen mehr haben.«
»Da gibt es Einrichtungen, die schaffen Abhilfe, Frau Biribauer. Warum nicht
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