Die Landkarte der Liebe
den Sand. Das Prasseln dröhnte in Mias Ohren, innerhalb von Sekunden war sie völlig durchnässt, und ihr dünnes T-Shirt wurde durchsichtig. Aber sie würde trotzdem nicht zum Auto gehen! Tränen brannten in ihren Augen, sie wandte das Gesicht zum Himmel und öffnete den Mund, lieà Tropfen über Lippen und Zunge flieÃen. Ein erdiger Geschmack drang in ihren Mund.
Als ihr kalt wurde, rieb sie sich die Arme; ihre Haut war glitschig. In der Ferne bewegte sich etwas. Eine Gestalt trat aus dem Regen und kam auf das Ufer zu. In Mia spannte sich jeder Muskel an. Es war Noah, der mit seinem Brett unter dem Arm entschlossen in die Wellen lief.
Mia stand knöcheltief im Wasser, blinzelte durch den strömenden Regen und versuchte, Noah inmitten der wogenden, verschwommenen Meereslandschaft im Blick zu behalten.
Noah hatte dreiÃig, vielleicht sogar vierzig Minuten gebraucht, um durch die gewaltigen Brecher zu paddeln, und er hatte unter massiven Wänden aus WeiÃwasser hindurchtauchen müssen. Sie konnte ihn auf seinem Brett, das sich auf den Wellen hob und senkte, nur noch ahnen. Mia sah regelrecht vor sich, wie er konzentriert den Rhythmus der Wellen beobachtete und auf die richtige Welle wartete. Jeder Fehler dort drauÃen hätte fatale Folgen.
Ein Motor röhrte, Mia wirbelte herum. Jez bog mit seinem verbeulten Mietlaster in die Parkbucht. Die Scheibenwischer glitten hektisch hin und her. Er sprang aus dem Wagen, zog sich seine Jacke über den Kopf und lief zu Mia.
»Er ist da drauÃen!«
»Was will der da, verdammt?« Jezâ Haut wirkte ledern, seine Unterlippe war von der Sonne rissig.
Eine Welle brauste heran und legte neue, scharfe Grate frei. Hatte Noah wirklich erfasst, wo sich das Riff verbarg? Oder hoffte er einfach, dass das Glück auf seiner Seite war?
»Wie lange ist er schon da drauÃen?«, rief Jez.
»Eine halbe Stunde ungefähr.«
Noah paddelte grimmig hinter einer Welle her, und als sie ihn anhob, schien es, als hockte ein Krebs auf dem Rücken eines Wals.
»Nicht die«, murmelte Jez neben Mia. »Zu schnell. Lass es, lass es.«
Aber Noah wollte diese Welle. Plötzlich riss sie ihn mit und trug ihn hoch auf ihren Kamm. Mia spürte den Regen wie Nadeln auf ihrem Kopf, der Sturm heulte, die See spülte ihr den Sand unter den FüÃen weg. Noah richtete sich auf und glitt über das Gesicht der Welle hinunter. Mia war von der Schönheit dieses Augenblicks gebannt, von Noahs Kraft, die sich mit der Macht der Welle maÃ, von der Wendigkeit, mit der er über das Wasser tanzte, während über ihm der Himmel tobte.
Doch im Bruchteil einer Sekunde veränderte sich alles. Noahs Beine glitten unter ihm weg, als wäre er auf einer Eisfläche ausgerutscht. Das Brett schoss in die Luft, und Noah wurde über die Welle geworfen, die an dem schroffen Riff zerschellte.
Mia zählte in Gedanken. Eins, zwei, drei ⦠vielleicht war er nicht auf den Felsen aufgeschlagen, sondern in einer tieferen Spalte gelandet ⦠elf, zwölf, dreizehn ⦠mit so etwas hatte er Erfahrung, er wurde ständig unter Wasser gedrückt ⦠vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig ⦠er war fit, seine Lungen waren trainiert ⦠einunddreiÃig, zweiunddreiÃig, dreiunddreiÃig â¦
Vor dem pechschwarzen Horizont blitzte etwas WeiÃes auf. Sein Brett. Es war zerbrochen, und das Meer hatte die Teile wieder ausgespuckt.
»Da!«, rief Jez.
Noahs Kopf durchbrach die Oberfläche. Er trieb in den tosenden Wassern auf und ab, ein Mensch unter Giganten.
Hinter ihm drohte eine neue Welle. Er drehte sich zu spät um, die Lippe löste sich bereits auf, und die Welle stürzte mit einem dröhnenden Grollen in sich zusammen. Das Meer wurde weiÃ. Mia malte sich voller Grauen aus, wie die stürmische See an Noah riss und zerrte, während seine Lungen brannten.
Sie schlang sich die Arme um die Taille und wartete. Jez zappelte von einem Fuà auf den anderen.
»Gott sei Dank!«, rief Mia, als Noah wieder auftauchte.
Nun schwamm Noah los, doch seine Bewegungen wirkten abgehackt, als würde er nur einen Arm benutzen. »Ich glaube, er ist verletzt!«, rief Mia Jez zu.
Aber Jez reagierte nicht. Er stand nur da und schaute auf das Meer, den Blick starr auf Noah gerichtet.
Minutenlang sahen sie beide zu, wie Noah langsam in Richtung Strand
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