Die Landkarte der Liebe
hellte sie sich auch wieder auf. »Ich glaube, Mia hat aus Angst geschwiegen. Sie hatte Angst, dass die Tatsache, dass ihr Halbschwestern seid, euer Verhältnis ändern würde.«
»Mag sein. Für mich war das eine schreckliche Neuigkeit. Es hat sich angefühlt ⦠ich weià nicht ⦠als ob es uns schwächen würde.«
Finn lächelte. »Mia hat es ganz genauso formuliert.«
»Wirklich?« Katie musste ebenfalls lächeln. »Aber das Gefühl hat sich gelegt. Halb ⦠das ist doch bloà ein Wort. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben unsere Kindheit zusammen verbracht. Dass wir unterschiedliche Väter haben, ändert daran gar nichts. Wir sind Schwestern.«
»Richtig.«
»Manchmal habe ich den Eindruck, als wüsste ich mehr aus ihrem Tagebuch als von Mia selbst. Dass es weg ist, macht mich ganz verrückt. Ich trug es die ganze Zeit mit mir herum, habe es aber nie zu Ende gelesen. Und natürlich frage ich mich ständig, was wäre, wenn da irgendetwas gestanden hat, das mir helfen würde zu verstehen?«
»Die Polizei muss es sich doch gründlich angesehen haben.«
»Angeblich. Aber ich hab damals, als ich es bei ihren Sachen entdeckte, bereits durch die letzten Seiten geblättert.«
»Und da war nichts, kein Abschiedsbrief ⦠kein Hinweis?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was sagt die Polizei denn? Besteht die Chance, dass dein Rucksack noch gefunden wird?«
»Die Polizei sagt, wenn sich eine Woche lang nichts tut, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass er noch gefunden wird.«
»Und wie lange ist es jetzt her?«
»Fast zwei Wochen.«
Er nickte. »Hast du schon mal daran gedacht, zum Britischen Konsulat zu gehen?«
»Das ist keine schlechte Idee. Abgesehen von dem Rucksack â ich will natürlich die genaue Stelle kennen, an der Mia gestorben ist. Ich weià nur, dass es irgendwo an den Klippen von Umanuk war.«
»Dann mach ich einen Termin aus, oder?«
»Danke, Finn.«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Sofort war der Funke da und fuhr ihr in den Magen. Sie errötete und zog die Hand zurück. Sie war verblüfft, dass selbst in Zeiten abgrundtiefer Trauer das Herz die Sehnsucht kannte. Sie bestaunte das Gefühl, als ob sie gerade das erste Frühlingsgrün gesehen hätte, das sich aus Frost und Eis erhob.
Kapitel 22
Mia
Bali, Februar
Der Wind peitschte Mia das Haar ins Gesicht und presste Noah das T-Shirt an die Brust. An ihren nackten Beinen scheuerte der Flugsand. Sie schauten vom Strand aus auf das Meer, das sich unter dem drohenden Sturm aufbäumte.
Noah hatte Mühe, gegen den Wind anzusprechen: »Gleich wirdâs regnen.«
Mia schaute zum Himmel. Eine Armada aus dunklen, regenschweren Wolken schob sich von Osten heran. Drei, vier Minuten, dachte Mia, dann sind sie über uns.
Als der Wind einen Moment lang abflaute, zitterte das Meer noch immer wie ein gewaltiger Leib aus glänzenden Schuppen. Noah griff nach Mias Hand, Sandkörner zwischen ihren Fingern. »Da kommt ein groÃes Set.« Noahs dunkle Augen leuchÂteten.
Wellenberge so groà wie Fährschiffe bauten sich auf dem Meer auf. »Könnte man darauf surfen?«
Sein Blick wanderte über das Wasser, als würde er schon seine Bahn bestimmen. »Möglich wäre es, aber man müsste in den Wind hineinpaddeln, und die Wellen brechen über dem Riff. Morgen sollte der Wind nachlassen, der Swell aber bleiben. Dann ist es perfekt.«
Noah hatte die Vorhersage und die Wetterkarten bereits die ganze Woche lang studiert, das Tiefdruckgebiet auf seinem Weg von der Antarktis zum Indischen Ozean verfolgt. Mia hatte gestaunt, wie wissenschaftlich es dabei zuging, wie fachkundig Noah mit Begriffen wie lokaler Effekt, Wettersystem und Wellenlänge umging.
Die erste Setwelle richtete sich im Meer auf. Auf ihrem Weg sog sie das Wasser an und legte das zahnige Riff frei wie säuberlich entbeinte Knochen. Die Welle brach derart laut donnernd, dass es in Mia nachhallte. Die Gischt sprühte über den gezackten Felsen.
»Mein Gott!«, sagte Mia und umklammerte Noahs Finger. »Was für eine Kraft so eine Welle hat â¦Â«
»Da wird man ganz klein.«
Sie nickte ehrfürchtig.
»In Cornwall müsst ihr doch auch schwere Atlantikstürme abbekommen, oder?«
»Allerdings. Als wir Kinder waren, hat Mum uns
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