Die Landkarte der Liebe
darauf gehörten den Zwillingsmädchen in ihren identischen blauen Mänteln. Allerdings staunte Katie schon ein wenig, dass der Herr mit dem müden Panamahut nicht nach dem braunen Lederkoffer griff, sondern nach einem silbern glänzenden. Allerdings hätte sie der eleganten, blonden Frau in den dunkelgrauen Stiefeletten und dem taillierten Blazer auch nicht den schäbigen Rucksack zugeordnet, den diese vom Band herabhob.
Katie bekam einen der abgenutzten Riemen zu fassen und zerrte ihren Rucksack mit beiden Händen vom Gepäckband herunter. Sie hatte Mühe, ihn anzulegen, bog die Arme nach hinten, um sie durch die Riemen zu zwängen, und hüpfte dann ein wenig, bis der Rucksack richtig saÃ. Er zog schwer nach unten, und Katie musste sich leicht vorbeugen, um ihn auszubalancieren.
Sie schleppte sich zur Ankunftshalle, wo eine gröÃere Menschenmenge sehnsüchtig nach ihren Lieben Ausschau hielt. Augenpaare glitten rasch über sie hinweg. Ein bulliger Mann in einem Giants-Sweatshirt duckte sich unter der Schranke hindurch, lief dem Jungen mit dem Hockeyschläger entgegen und schlang seine kräftigen Arme um ihn. Katie hatte es nicht eilig, den Flughafen zu verlassen und San Francisco zu sehen, so wie Mia und Finn. Stattdessen mischte sie sich unter die Wartenden auf der anderen Seite der Ankunftsschranke, stellte den Rucksack ab, hockte sich darauf und beobachtete das Geschehen.
Die Stunden verrannen. Katie saà vollkommen reglos da, die Hände im SchoÃ. Allmählich verstand sie den Rhythmus der ankommenden Passagiere. Es gab Phasen, in denen der Gang menschenleer blieb, und erst, wenn die Anzeigetafeln neue ÂLandungen verkündeten, kehrte wieder Leben ein. Manchmal kamen auch zwei Passagiergruppen gleichzeitig an, etwa, wenn ein Flug Verspätung hatte. Dann herrschte besonders dichtes Gedränge.
Väter holten ihre Töchter ab, junge Männer warteten auf ihre Freundinnen, Ehemänner suchten ihre Frauen, GroÃeltern strahlten ihre Enkel an â Katie aber wartete auf andere Begegnungen: das Wiedersehen zweier Schwestern. In einigen Fällen war es schwer zu entscheiden, ob Frauen Freundinnen oder Geschwister waren, aber meist hatte Katie einen sicheren Instinkt. Sie sah es an der entspannten Art, mit der sie sich umarmten, an einem Lächeln, das sich plötzlich spiegelte, an einem Scherz, der von einem Mund zum anderen wanderte. Sie sah es an der Kontur einer Nase, einer Geste, der Haltung, wenn sie Arm in Arm davongingen.
Eine Frau mit feuerrotem Haar, das sich über die Schultern ihres Kaftans ergoss, hielt sich beim Anblick ihrer Schwester die Hand vor den Mund. Ein violetter Seidenschal verhüllte zwar zum Teil deren kahles Haupt, doch die Unerbittlichkeit der Krankheit lieà sich nicht verbergen. Die Rothaarige streckte die Arme aus und drückte die Finger ihrer Schwester, berührte zärtlich den einstigen Haaransatz und verlor dann doch die Fassung, um die sie gerungen hatte. Sie weinte an der Schulter ihrer Schwester und umarmte sie fest und lange.
Hätte ein AuÃenstehender erraten können, dass sie und Mia Schwestern waren? Katie wirkte mit ihrem hellen Teint und den blonden Haaren so ganz anders als Mia mit ihrem dunklen Haar, aber wer genau hingeschaut hätte, hätte sehen können, dass sie die gleichen vollen Lippen und exakt gleich geschwungenen Augenbrauen hatten. Und wer aufmerksam hingehört hätte, hätte in der deutlichen Aussprache der Wortendungen die guten Schulen herausgehört, aber auch bemerkt, dass beide das Wort »Charisma« auf der zweiten statt der ersten Silbe betonten.
Dann trieben sie heran, die lebhaften Erinnerungen, Szenen aus Kindertagen, an die Katie jahrelang nicht mehr gedacht hatte: sie beide in warmen Gezeitentümpeln, in denen es nach Seetang roch, Handstand im Meer, obwohl ihnen salziges Wasser in die Nase lief, ihr erstes Fahrrad, kirschrot, Katie trat in die Pedale, Mia hockte auf der weiÃen Lenkstange, sie beide als Piratinnen an winterleeren Stränden, mit Möwenfedern hinterm Ohr.
Sie hatte die Rolle der älteren Schwester geliebt, es war eine Auszeichnung gewesen, die sie stolz getragen hatte. Was hatte sie bloà voneinander entfernt? War es der Streit kurz vor dem Tod ihrer Mutter? Oder hatte es schon viel früher begonnen? Vielleicht hatte es gar nicht das eine auslösende Moment gegeben, sondern eine Vielzahl kleinerer Momente,
Weitere Kostenlose Bücher