Die Landkarte der Liebe
einen Prozess, ein langsames Zerfasern wie bei einem Lieblingskleid, das im Laufe der Jahre zerschleiÃt; erst wird der Stoff am Ausschnitt dünn, dann leiert die Taille aus, und schlieÃlich wird ein loser Faden zu einem langen Riss.
»Maâam?« Ein Kofferträger sah sie an, in einer blauen Uniform, mit Dreadlocks, die er unter die Kappe geschoben hatte. »Sie sind schon hier, seit meine Schicht begonnen hat.«
Sie schaute auf die Ankunftstafel, auf die Uhr. Drei Stunden waren ihr entglitten.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Sie stand rasch auf, die Knie steif von der reglosen Haltung. »Alles bestens, danke sehr.«
»Hoffen Sie, hier jemanden zu finden?«
Sie blickte auf zwei junge Frauen, die sich in dem Moment umarmten. Die GröÃere trat einen Schritt nach hinten, nahm die Hand der anderen, führte sie an die Lippen und küsste sie.
»Ja«, erwiderte sie, »meine Schwester.«
Sie hievte den Rucksack auf das Bett und sah sich, die Hände in die Seiten gestemmt, in ihrem Motelzimmer um. An den bräunlich überstrichenen Wänden hingen zwei gerahmte Tulpendrucke. Die Fenster lieÃen sich nicht öffnen, der warme Mief früÂherer Gäste hing noch in der Luft. Die Fernbedienung für den Fernseher war an einem Schreibtisch aus Resopal befestigt, die Bibel und das Telefonbuch lagen übereinander auf dem Nachttisch. Dies war kein gastliches Zimmer, das zu einem längeren Verweilen einlud, aber hier hatte Mia übernachtet, und darum würde hier auch Katie übernachten.
Es drängte sie, auszupacken, aber sie war Rucksacktouristin auf Mias Spuren und würde gleich am nächsten Tag weiterziehen, und auch den Tag darauf, und wiederum den Tag darauf. Als Kompromisslösung holte sie ihren Kulturbeutel aus dem Rucksack und legte ihn in das fensterlose Badezimmer, neben das dünne Seifenstückchen, das vom Motel spendiert wurde. Sie war erÂÂschöpft und hätte sich gern ein wenig hingelegt und ausgeruht, aber es war erst fünf Uhr nachmittags. Wenn sie jetzt einschlief, würde sie womöglich mitten in der Nacht wach werden und müsste mit düsteren Erinnerungen ringen. Sie entschied sich, essen zu gehen, spritzte sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht, trug eine neue Schicht Wimperntusche auf und schlüpfte in ein frisches Oberteil. Dann nahm sie ihre Handtasche, Mias Tagebuch und brach auf.
Der Rezeptionist wies ihr den Weg zu dem Thai-Restaurant, in dem, laut Tagebuch, Mia und Finn an ihrem ersten Abend geÂÂgessen hatten. Katie bahnte sich bei Sonnenuntergang ihren Weg durch Fishermanâs Wharf und legte nur einen kurzen Stopp ein, um Ed anzurufen und ihm zu sagen, dass sie gut angekommen war.
Abendliche, rauchige Nebelschwaden hingen über dem Meer. Katie zog ihre Jacke fester um sich. Hätte sie doch etwas Wärmeres angezogen. Mia hatte in ihr Tagebuch geschrieben, San Francisco sei der reinste Schmelztiegel, die Heimat von Künstlern, Musikern, Bankern und Freigeistern zugleich , und dass sie Downtown und seinen urbanen Herzschlag liebte. Bei einer anderen Gelegenheit hätte sich Katie wahrscheinlich auf Mias Urteil verlassen und sich von der ungewöhnlichen Architektur, den gewundenen StraÃen und den bunt gemixten Fassaden mitreiÃen lassen â an diesem Abend aber eilte sie weiter.
In dem Restaurant ging es laut und lebhaft zu, an den runden Tischen wurde geredet, gelacht, gegessen und getrunken. Ein Kellner führte Katie zu einem Fensterplatz; einige Männer sahen auf, als sie an ihrem Tisch vorüberging. Die Unterhaltung setzte erst nach einer Weile wieder ein.
Katie hängte ihre Jacke über die Rückenlehne, während der Kellner das zweite Gedeck abräumte. Aus Lautsprechern an den ockerfarbenen Wänden ertönte Jazzmusik, und über allem lag ein amerikanisch eingefärbter Klangteppich. Katie stieg der Geruch von warmen Gewürzen und Duftreis in die Nase, und da erst merkte sie, wie hungrig sie war. Sie hatte während des Flugs keinen Bissen runtergebracht. Sie bestellte sich ein Glas trockenen WeiÃweins, und als der Kellner damit kam, hatte sie sich bereits für Penang-Curry mit Riesengarnelen entschieden.
Ohne die Speisekarte hatte sie nichts mehr, womit sie sich beschäftigen konnte, und sie fühlte sich schon ein wenig exponiert, so ganz allein an ihrem Tisch. Dies war nur eine der vielen Hürden, die nun vor ihr lagen, und
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