Die Landkarte der Liebe
wie gebannt war, während sich in ihr sämtÂliche Eingeweide panisch zusammenzogen. Sie hatte ihre Furcht nicht von einem ängstlichen Erwachsenen geerbt, und es waren auch weder Horrorstorys, die Freunde erzählten, noch solche aus dem Fernsehen daran schuld: Diese Angst kam aus ihr selbst, und sie war höchst lebendig. Katie war damals erst neun Jahre alt. Der erste Flug hätte zum Abenteuer ihres Lebens werden sollen.
Danach hatte Katie nur noch zwei Mal ein Flugzeug bestiegen â und jedes Mal hatte die Angst ihr schon Wochen vor dem Start fürchterliche Dinge eingeflüstert. Es gab nur einen Weg, diese Stimme zu ersticken: Katie musste ihr den Anlass nehmen. Und darum meldete sie sich zum Skiausflug der Universität erst dann an, als sie hörte, dass es eine Busfahrt würde. Die schicke Reise, die ihre Mutter ihnen spendieren wollte, nachdem ein plötzlicher Geldregen auf sie niedergegangen war, wurde auf Katies Drängen hin zu einer Kreuzfahrt, und als Ed mit ihr einen Kurztrip nach Barcelona unternehmen wollte, überzeugte sie ihn von Paris â und einer Anfahrt durch den Tunnel.
Nervös zwirbelte sie an den Ãrmeln ihrer Jacke. Dabei war ihre gröÃte Angst noch nicht einmal, dass die Triebwerke ausfallen oder die Piloten einen Fehler machen könnten. Es war das Gefühl, eingepfercht zu sein, das ihr die Kehle zuschnürte und das Herz gegen den Brustkorb schlagen lieÃ: die geschlossene Kabine, der enge Sitz mit seinen starren Armlehnen, die beiden Passagiere â einer schlief, einer las â, die ihr den Weg zum Gang versperrten, der Gurt, der sich über ihren Schoà spannte, der elfstündige Flug, bei dem es keine Pausen gab. Sie saà hier viele Stunden lautlos in der Falle, ohne irgendeine Ablenkung. Zum ersten Mal, seit sie die Neuigkeit erfahren hatte, war sie völlig still. Ihr Verstand nutzte die Gelegenheit, sich auf das eine Wort zu stürzen, das sie bisher vermieden hatte: Selbstmord.
Katie hatte Selbstmord bisher immer nur mit psychisch Kranken in Verbindung gebracht, oder mit Menschen, die unter einer entsetzlichen, unheilbaren Krankheit litten â aber nicht mit einer körperlich und geistig fitten Vierundzwanzigjährigen, die sich mit ihrem besten Freund auf einer abenteuerlichen Weltumrundung befand. Das machte keinen Sinn. Und doch war es geschehen. Es gab Zeugenaussagen, einen Autopsiebefund und einen Polizeibericht, und sie alle besagten das Gleiche.
Katie hatte wie besessen im Internet unter dem Stichwort »Selbstmord« recherchiert. Demnach war es die zehnthäufigste Todesursache â vor Mord, Leberleiden und Parkinson. Eine Million Menschen begeht jedes Jahr Selbstmord, hatte sie gelesen, und, mit wachsender Bestürzung, dass sich einer von sieben Menschen im Laufe seines Lebens mit ernsthaften Suizidgedanken trägt. Drogen- und Alkoholmissbrauch spielten demzufolge bei siebzig Prozent aller Selbstmorde von Erwachsenen eine Rolle.
Aber das Internet, die Zeugen und die balinesische Polizei wussten eines nicht: wie ihre Schwester war. Mia wäre niemals gesprungen. Ja, sie war bisweilen unberechenbar gewesen, hatte radikale Stimmungsumschwünge durchgemacht, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, und manchmal schien Mia so intensiv zu empfinden, als läge ihr Herz zu dicht unter der Haut. Aber sie war auch unglaublich mutig gewesen. Eine Kämpfernatur â und Kämpfer springen nicht.
Von dieser Ãberzeugung würde Katie nicht abrücken. Sonst hätte sie vor der qualvollen Erkenntnis gestanden, dass ihre Schwester sich entschieden hatte, sie zu verlassen.
Der internationale Flughafen von San Francisco erschien ihr so groà wie eine Stadt. Katie lieà sich von der Menge treiben, zu Rolltreppen, hell erleuchtete Treppen hinunter, bis sie schlieÃlich zur Gepäckausgabe kam. Sie stellte sich mit einigen Schritten Entfernung an Band drei, damit die besonders hektischen Reisenden nach ihren Sachen greifen konnten.
Während sie darauf wartete, dass Mias Rucksack unter den schweren Plastiklamellen des Förderbands auftauchte, spielte sie in Gedanken ein Spiel. Sie versuchte, Reisenden ihren Koffer zuzuordnen. Bei den ersten Gepäckstücken war es einfach. Die schwarz wattierte Eishockeytasche gehörte dem massigen Teenager, in dessen rotblondes Haar am Hinterkopf ein Blitz rasiert war, und die beiden Köfferchen mit den Marienkäfern
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