Die Landkarte der Liebe
Schultern. Auf der StraÃe schob sich der Verkehr vorbei. Taxis, an deren Rückspiegeln Bänder und Blumen baumelten, drängelten sich hupend hindurch.
Katie blieb kurz in einem schattigen Hauseingang stehen und schaute auf den Stadtplan: Das Hostel lag ganz in der Nähe, nur noch zwei StraÃen entfernt. Sie hatte den Taxifahrer gebeten, sie kurz vorher aussteigen zu lassen â sie hatte das ständige Stop-and-go nicht mehr ausgehalten, und die Wagenfenster hatten sich nicht öffnen lassen â, doch nun bereute sie es. Hitze und ein flaues Gefühl breiteten sich in ihr aus.
Sie steckte den Plan ein und hob den Rucksack etwas an, um ihre Schultern zu entlasten. Dann ging sie weiter, drängte sich durch eine Gruppe lärmender Touristen, die an einem StraÃenstand um Silberschmuck feilschten. Sie bog nach rechts und dann nach links ab und stand in einer Gasse, die von prallen MüllÂsäcken gesäumt wurde.
Verblichene gelbe Lettern kündigten das Nyang Palace an. Das klägliche Schild lehnte auf einem Plastikstuhl neben einer Tür. Katie betrat den dunklen Eingang und musste über einen Korb mit welken, orangefarbenen Blüten und Reiskörnern steigen.
Der schwere, fettige Geruch von Speiseöl hing in der Luft. Einige Touristen hockten um ein müdes Sofa herum und unterhielten sich in einer Sprache, die Katie nicht einzuordnen wusste. Eine dickliche Frau saà hinter der Rezeption auf einem Hocker und aà mit den Fingern Reis. Hinter ihr, auf einer Matratze, lag ein Mann und sah durch eine dunkle Sonnenbrille fern.
»Hallo«, sagte die Frau und leckte sich die Finger sauber. »Sie wollen Zimmer?«
»Ja, bitte.« Katie nahm den Rucksack nicht ab, in der Hoffnung, dass das Einchecken rasch erledigt wäre: Sie war nicht sicher, ob sie genügend Energie hätte, ihn noch einmal hochzuheben.
»Schlafsaal? Einzel- oder Doppelzimmer?«
»Einzelzimmer bitte.«
»Fünfzehn Dollar.«
Katie hatte ihr Geld am Flughafen zur Hälfte in Rupiah getauscht. Man hatte ihr geraten, in balinesischer Währung zu zahlen, das sei günstiger. »Was macht das in Rupiah?«
»Nein. Nein. Nur Dollar. Dollar.«
Katie reichte ihr fünfzehn Dollar, viel zu erschöpft, um zu feilschen.
Die Betreiberin des Hostels schlurfte in strassbesetzten SanÂdalen hinter der Theke hervor; die Zehennägel waren in einem dunklen, glänzenden Violett lackiert. Ihre Fingernägel waren abgekaut und voller Rillen, und Katie fragte sich, wieso sich diese Frau mit derart offenkundiger Sorgfalt und Freude um ihre FüÃe kümmerte.
Es ging eine Treppe und einen Korridor entlang, in dem die Farbe von den rissigen Wänden blätterte. Die Frau schloss eine Tür auf und reichte Katie einen Schlüssel an einer verknoteten, grauen Schnur.
Die Einführung in die Räumlichkeiten fiel denkbar knapp aus. »Toilette«, sagte die Wirtin und wies auf eine grüne Tür ohne erkennbaren Griff. Dann zeigte sie zur Decke. »Terrasse zum Rauchen da oben. Im Zimmer nicht rauchen.« Und schon klickten ihre Sandalen wieder laut durch den Korridor.
Das Zimmer war schäbig und wurde von dünnen, bräunlichen Vorhängen, die am Saum schon ausgefranst waren, verdunkelt. Katie öffnete die Vorhänge und scheuchte einen Moskito auf, der träge an die Decke flog. Das verschmierte Fenster führte auf ein verlassenes Gebäude, darüber war ein Stück der frühen Abendsonne sichtbar. Katie setzte den Rucksack ab, sank auf das Bett und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie viele Menschen vor ihr schon auf der durchgelegenen Matratze geschlafen hatten.
In der stickigen Ruhe ging ihr auf, dass sie mit jedem Ort, den sie in den letzten Monaten bereist hatte, diesem hier unweigerlich näher gekommen war: Mias letztem Reiseziel.
Sie öffnete den Rucksack und holte das Tagebuch hervor. Sie blätterte durch die restlichen Seiten, es konnten höchstens noch sechzig sein, und die lieÃen sich schnell lesen. Und zwar gleich jetzt, hier, in den nächsten Stunden. Es war alles da und wartete nur darauf, dass sie die Seiten umblätterte.
Doch nein, so konnte sie das Tagebuch nicht lesen. Noch nicht. All die Monate hatte Mia sie begleitet, hatte Katie ihre Schwester durch deren Worte immer besser verstanden. Wenn die letzten Seiten gelesen waren, war es vorbei. Dann musste sie Mia gehen lassen.
Katie konnte
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