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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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den Schmerz über
     den Tod seiner Tochter Francine zu verwinden, eine mechanische Puppe konstruierte, die deren Gesichtszüge trug und die der
     Kapitän des Schiffes, auf dem sie fuhren, ohne zu zögern über Bord warf, als er ihrer ansichtig wurde. Das betrübliche Bild
     eines am Meeresgrund vor sich hin rostenden Maschinenmädchens war für die Kleinen fast zu viel. Aber alle aufgezählten Fälle
     waren gleich schrecklich und bildeten den fruchtbaren Boden für eine Rache, die seit Jahren in den Herzen jener heranwuchs,
     die in Salomon jetzt den Bruder erkannten, der sie in die Tat umsetzen konnte. Das Schicksal des Menschen wurde einer Abstimmung
     unterzogen, und das Ergebnis ohne eine einzige Enthaltung oder Gegenstimme war eindeutig: |310| Ausrottung. Im alten Ägypten waren die Götterstatuen mit beweglichen Armen versehen, die, aus den Schatten heraus gehandhabt,
     Schrecken unter den Versammelten verbreiteten. Jetzt war der Augenblick, das Zeichen dieser Götter wiederaufzunehmen und jenen
     alten Schrecken unter den Menschen wirksam werden zu lassen. Für sie war jetzt die Zeit gekommen, ihre Schulden zu bezahlen.
     Ihre Herrschaft ging zu Ende, der Mensch war nicht mehr das mächtigste Geschöpf auf Erden, falls er das überhaupt je gewesen
     war. Jetzt war die Zeit der Maschinenmenschen gekommen, die, von ihrem neuen König angeführt, den Planeten erobern würden.
     Salomon zuckte die Schultern. «Warum nicht?», sagte er sich. «Warum soll ich mein Volk nicht führen, wohin es will?» So fügte
     er sich guten Willens in seine Bestimmung. Genau besehen war dieses Unternehmen gar nicht so haarsträubend, wie es den Anschein
     hatte; mit einem bisschen Organisation schien es sogar durchführbar. Schließlich waren die Kleinen strategisch günstig positioniert,
     hatten den Feind auf allen Ebenen infiltriert. Sie waren in allen Haushalten, in allen Fabriken, in allen Ministerien, und
     sie hatten den Überraschungseffekt auf ihrer Seite.
    Wie jemand, der seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellt, ließ Salomon sein Inneres von den Maschinenmenschenkonstrukteuren
     untersuchen, die danach begannen, Kriegsroboter nach seinem Ebenbild herzustellen. Sie arbeiteten in alten Schuppen und leerstehenden
     Fabriken, derweil die Kleinen an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten und geduldig auf einen Befehl des Königs warteten, um über
     den Feind herzufallen. Als dies dann geschah, übertraf der koordinierte Angriff der Kleinen, brutal und |311| rücksichtslos ausgeführt, alle Erwartungen und dezimierte die Menschheit in einem Wimpernschlag. In jener Nacht wurde der
     Traum des Menschen jäh und endgültig zerstört. Scheren stießen in Kehlen, Hämmer schlugen auf Schädel, und Kopfkissen erstickten
     den letzten Atemzug der Lungen, vereinigten sich zu einer Symphonie von Bersten und Röcheln, zu der die Hand des Todes den
     Taktstock schwang. Und während in den Häusern gestorben wurde, die Fabriken brannten und schwarzer Qualm aus den Fensterhöhlen
     quoll, marschierte eine Armee von Kampfrobotern unter Salomons Führung wie eine alles überrollende eiserne Brandung durch
     die Straßen der Hauptstadt und traf auf so geringen Widerstand, dass die Invasion nach wenigen Minuten einer friedlichen Parade
     glich. An jenem Morgen begann der Untergang der Menschheit, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, bis die Erde ein verwüsteter
     Planet war, in dessen Ruinen sich wie verschreckte Ratten die letzten überlebenden Menschen verbargen.
    Abends pflegte Salomon auf den Balkon seines Palasts zu treten und seinen Blick voller Stolz über die Trümmerlandschaft gleiten
     zu lassen, in die er seine Stadt verwandelt hatte. Er war ein guter König; er hatte getan, was man von ihm erwartet hatte,
     und es war gut geworden. Niemand konnte ihm etwas vorwerfen. Die Menschen waren besiegt und würden in ein paar Jahren vollständig
     vom Antlitz der Erde getilgt sein. Ihre endgültige Auslöschung war nur noch eine Frage der Zeit. Doch wenn dies geschah, fiel
     ihm plötzlich ein, wenn der Mensch vom Angesicht der Erde verschwunden sein würde, hätten sie keinerlei Beweis dafür, dass
     sie eine andere Rasse vom Planeten vertrieben hatten, da diese einfach nicht mehr vorhanden wäre. Sie |312| brauchten einen Beweis, ein menschliches Exemplar, das den besiegten Feind darstellte. Ein Exemplar des denkenden, träumenden
     und ehrgeizigen Tiers namens Mensch, das nach Unsterblichkeit strebte und nach dem

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