Die Landkarte der Zeit
Warum seines Daseins auf der Welt fragte.
Von Noah und dessen Arche inspiriert, befahl Salomon, aus dem erbärmlichen Häuflein überlebender und sich in den Ruinen versteckender
Menschen zwei junge und starke Exemplare einzufangen, ein männliches und ein weibliches, die sich in Gefangenschaft vermehren
und die besiegte Rasse in all ihrer komischen Widersprüchlichkeit erhalten sollten.
Das als Andenken ausgewählte Paar wurde in einen goldenen Käfig gesperrt, keine Kosten wurden gescheut, es zu ernähren und
mit Aufmerksamkeiten zu überhäufen, doch vor allem wurde es zur Fortpflanzung angehalten. Mit der Rechten ein Menschenpaar
am Leben zu erhalten, um den Fortbestand der Rasse zu sichern, die er mit der Linken massakrierte, schien Salomon eine höchst
intelligente Maßnahme zu sein. Was er jedoch nicht wusste, war, dass er sich den falschen Mann dafür gesucht hatte. Der Gefangene
war ein kräftiger und gesunder Bursche, der vorgeblich jedem Befehl ohne Murren nachkam und sich dankbar zeigte, vor dem sicheren
Tod bewahrt worden zu sein. Er war aber auch intelligent genug, um zu erkennen, dass sein Glück an dem Tag enden würde, an
dem die Gefährtin seinen Nachfolger zur Welt gebracht hätte. Diese Tatsache indes schien ihn nicht weiter zu kümmern, verfügte
er doch über mindestens neun Monate, um sein Vorhaben zu realisieren, welches darin bestand, den Feind aus seinem Luxusgefängnis
heraus zu beobachten, sich mit dessen Gewohnheiten vertraut zu machen, seine Bewegungen zu studieren und |313| herauszufinden, wie er ihn vernichten konnte. Außerdem nutzte er jede freie Minute dazu, seinen Körper für den Tod vorzubereiten.
An dem Tag, an dem seine Konkubine einem Jungen das Leben schenkte, wusste der junge Mann, dass seine letzte Stunde geschlagen
hatte.
Mit beunruhigender Gefasstheit schritt er voran und ließ sich folgsam zur Hinrichtungsmauer führen. Salomon selbst würde ihn
exekutieren. Als er sich vor ihm aufbaute und das Kanonentor seiner Brust öffnete, damit die darin verborgene Waffe erwachen
und den Jungen ins Visier nehmen konnte, lächelte dieser und sprach erstmals:
«Vorwärts! Töte mich, danach werde ich dich töten.»
Salomon legte den Kopf auf die Seite und fragte sich, ob diese Worte einen geheimen Hintersinn bargen, den er entschlüsseln
müsste, oder ob es sich nur um eine Absurdität handelte. Er kam zu dem Schluss, dass es im Grunde egal war. Ohne weiteres
Zögern und mit beinahe gelangweiltem Überdruss schoss er auf den anmaßenden Jungen. Die Kugel traf ihn mitten in den Bauch
und warf ihn zu Boden.
«Ich habe dich getötet, jetzt töte du mich», sagte Salomon herausfordernd.
Er ließ ein paar Minuten verstreichen, um zu sehen, ob der Junge sich erhob, und da dies nicht geschah, zuckte er die Achseln,
befahl seinen Lakaien, sich des Leichnams zu entledigen, und wandte sich wieder seinen Angelegenheiten zu. Wie befohlen, brachten
die Wachen den Körper des Jungen aus dem Palast, wo sie ihn wie einen Sack Abfall umstandslos einen Abhang hinunterwarfen.
Der Körper rollte den steilen Hang hinunter, bis er blutig und mit aufgerissenem Mund zwischen Geröllbrocken |314| unten liegen blieb. Ein herrlicher Vollmond von bleichem Gelb beschien die Nacht. Der Junge lächelte ihn an, und es sah aus
wie das Lächeln eines Totenschädels. Er hatte es geschafft, aus dem Palast zu entkommen, obwohl der Junge, als der er hineingegangen
war, drinnen geblieben war. Hinausgelangt war ein Mann mit einer klaren Mission: die wenigen überlebenden Menschen um sich
zu scharen, sie zu organisieren und ihnen zu zeigen, wie man gegen die Maschinenmenschen kämpfte. Um dies zu erreichen, musste
er nur dafür sorgen, dass ihn die Kugel in seinem Bauch nicht tötete. Doch das stellte überhaupt kein Problem dar. Er wusste,
dass sein Lebenswille stärker war als der Wunsch der Kugel, ihn umzubringen, dass sein Wille dem des Stücks Metall in seinem
Bauch weit überlegen war. Während der ganzen Zeit seiner Gefangenschaft hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet; darauf,
ohne Furcht den brennenden Schmerz auszuhalten, ihn zu verstehen und zu beherrschen und erträglich zu halten, bis die Kugel
mit ihrer Geduld am Ende war. Es war ein nicht enden wollender Zweikampf, ein dramatisches Duell, das drei Tage und drei mondhelle
Nächte in der Einsamkeit des Geröllhaufens andauerte, bis die Kugel schließlich aufgab. Sie erkannte, dass sie es
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