Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
alles in Ordnung war. Dann setzte er ein geheimnisvolles Lächeln auf, öffnete die Tür des Waggons, spähte mit
     gerunzelter Stirn einige Sekunden lang hinaus und wandte sich lächelnd an die Fahrgäste:
    «Ladys und Gentlemen, folgen Sie mir bitte ins Jahr 2000.»

|326| XXI
    Während ihre Reisegefährten die Zeitstraßenbahn ohne Umstände verließen, hielt Claire an der Türschwelle inne und streckte
     ihren rechten Fuß der Erde der Zukunft so feierlich entgegen, wie sie als Kind zum ersten Mal ihren Fuß ins Meer getaucht
     hatte. Im Alter von sechs Jahren hatte sie die Wellen, in denen sich der Ozean ans Land zu schleppen schien, mit unendlicher
     Vorsicht, fast schon ehrerbietig berührt, als hinge davon ab, wie die unermessliche Masse dunklen Wassers mit ihr umgehen
     würde. Auf dieselbe Weise betrat sie jetzt das Jahr, in dem sie zu bleiben gedachte, und erhoffte sich von ihm ähnlichen Respekt.
     Als ihr Schuhabsatz den Boden berührte, war Claire überrascht von der Festigkeit, als hätte sie von der Zukunft, bloß weil
     diese eine Zeit war, die es noch nicht gab, erwartet, so zerbrechlich wie eine Waffel zu sein. Allein ein paar Schritte überzeugten
     sie, dass dies nicht der Fall war. Die Zukunft war ein solider Ort, ohne Zweifel wirklich, wenn auch vollkommen zerstört,
     wie sie feststellen konnte, als sie den Blick hob. Dieses Trümmerfeld sollte London sein?
    Die
Cronotilus
hatte auf einer freien Fläche zwischen den Ruinen gehalten, einem Rund, das früher vielleicht ein kleiner Platz gewesen war,
     an den nur noch eine Handvoll verkohlter und verkrüppelter Bäume erinnerte. Die |327| Gebäude, die das Plätzchen umstanden hatten, waren alle zerstört. Hier und da stand noch ein Mauerrest, völlig unpassend manchmal
     noch tapeziert oder mit einem Bild oder einer Lampe behängt, das zerbrochene Skelett einer Treppe, ein Stück schmiedeeiserner
     Zaun, der nicht mehr beschützte als einen Haufen Geröll. Auf den Gehwegen sah man schwarze Aschehaufen, vermutlich die Überreste
     von Feuern, in denen die letzten Überlebenden ihre Möbel verbrannt hatten, um die nächtliche Kälte zu überstehen. Claire konnte
     in der Trümmerlandschaft nicht den geringsten Hinweis darauf finden, in welchem Teil Londons sie sich befanden, was hauptsächlich
     daran lag, dass es trotz fortgeschrittener Morgenstunde nicht hell war. Der von einem Schleier gräulichen Qualms verhangene
     Himmel, erleuchtet nur von Dutzenden von Bränden, die hinter den Dächern in der Ferne wie Votivkerzen glühten und in deren
     düsterem Licht die Umrisse dieser zerstörten Welt verschwammen; einer Welt, die ihrem Schicksal überlassen worden war wie
     ein Schiff, auf dem die Pest ausgebrochen und das dazu verdammt ist, durch die Jahrhunderte über die Ozeane zu segeln, bis
     es zwischen den Korallen seine letzte Ruhe findet.
    Als Mazursky den Eindruck hatte, seine Gäste hätten nun Zeit genug gehabt, sich einen Eindruck vom desolaten Zustand der Zukunft
     zu verschaffen, bat er sie alle zu sich, und dann machten sie sich auf den Weg, er voran und einer der Schützen am Schluss
     der Gesellschaft. Die Zeitreisenden verließen den Platz und folgten einer Straße, auf der ihnen die Zerstörung noch größer
     zu sein schien, auf der kaum noch ein Stein auf dem anderen stand und einen Hinweis darauf gab, dass die Geröllhalden um sie
     herum |328| einmal Gebäude gewesen waren. Möglicherweise war die breite Straße einmal von luxuriösen Villen gesäumt gewesen, doch der
     lange Krieg hatte die Innenstadt von London in einen riesigen Schutthaufen verwandelt, in dem prachtvolle Kirchen und billige
     Absteigen in einem wilden Durcheinander von Backsteinen, in dem Claire voller Entsetzen den einen oder anderen menschlichen
     Schädel erblickte, nicht mehr zu unterscheiden waren. Der Expeditionsleiter führte die Gruppe durch die Scheiterhaufen ähnelnden
     Geröllberge, auf denen Raben hockten und nach Fressbarem pickten. Die Schritte der sich nähernden Gruppe verscheuchten sie,
     sodass sie in dichten Scharen davonflatterten und den Himmel noch mehr verdunkelten. Nur einer blieb zurück und flog über
     ihren Köpfen hin und her, zeichnete mit seinem Flug eine unheilvolle Kalligraphie in den Himmel, als wäre sie die Unterschrift
     des Schöpfers, mit der dieser das Patent auf seine enttäuschende Erfindung einem anderen überließ. Von derartigen Betrachtungen
     unberührt, schritt Mazursky unbeirrt voran, wählte die am wenigsten

Weitere Kostenlose Bücher