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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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abblätternder Fassade, eingeklemmt zwischen zwei lauten
     Kaschemmen, die jedem den Schlaf raubten, der jenseits der dünnen Wände seine Ruhe zu finden hoffte. Verglichen mit anderen
     Absteigen, in denen er gehaust hatte, war dieses schmutzige Versteck für Tom Blunt jedoch einem Palast ähnlicher als alles
     davor. Zu dieser frühen Nachmittagszeit lag über der Straße ein dichter Geruch von gebratenen Würsten, der aus den Tavernen
     drang und für die meisten Gäste des Hauses, deren Taschen gewöhnlich kaum mehr als ein paar Flusen enthielten, eine beständige
     Qual darstellte. Tom überquerte die Straße und versuchte, die Gerüche zu ignorieren, die ihm das Wasser in den Mund trieben
     wie einem Hund. Es tat ihm schon leid, dass er sich aus lauter Angst Gilliam Murrays Bankett hatte entgehen lassen, das seinen
     Bauch für die nächsten Tage gefüllt hätte. Neben der Tür des Gästehauses sah er den Stand von Mrs.   Ritter, einer stets kummervoll dreinblickenden Witwe, die sich durch Handlesen etwas Geld dazuverdiente.
    «Guten Tag, Mrs.   Ritter», grüßte er sie mit höflichem Lächeln. «Wie gehen die Geschäfte?»
    «Dein Lächeln ist das Beste, was ich heute zu sehen gekriegt |367| habe, Tom», antwortete die Frau, die sich offensichtlich freute, ihn zu sehen. «Kein Mensch scheint an seiner Zukunft interessiert
     zu sein. Oder hast du etwa im Viertel herumerzählt, dass es besser ist, nicht zu wissen, was die Vorsehung für uns bereithält?»
    Toms Lächeln wurde noch breiter. Er mochte Mrs.   Ritter, und seit sie neben dem Eingang der Pension ihren armseligen Stand errichtet hatte, war Tom ihr selbsternannter Fürsprecher
     geworden. Nachdem er sich aus dem, was im Viertel über sie erzählt wurde, ihre ganze traurige Geschichte hatte zusammenreimen
     können, war Tom zu dem Schluss gekommen, dass diese Frau im Leben genug gelitten hatte und er ihr von nun an helfen würde,
     im Rahmen seiner Möglichkeiten, versteht sich, die unglücklicherweise aus nicht viel mehr bestanden als ab und zu einem Apfel,
     den er auf dem Markt von Covent Garden stahl, oder ein paar freundlichen Worten, mit denen er sie aufzuheitern suchte, wenn
     sie einen schlechten Tag hatte. Trotzdem hatte er sich nie von ihr aus der Hand lesen lassen und dafür immer dieselbe Entschuldigung
     gehabt: zu wissen, was die Zukunft für ihn bereithielt, würde seine Neugier töten, und die war das Einzige, was ihn jeden
     Morgen dazu brachte, das Bett zu verlassen.
    «Niemals würde ich Ihr Geschäft sabotieren, Mrs.   Ritter», antwortete er vergnügt. «Bestimmt wird es heute Nachmittag besser.»
    «Hoffentlich, Tom, hoffentlich.»
    Er verabschiedete sich und stieg die wacklige Treppe zum ersten Stock der Pension hinauf, in dem sein Zimmer lag. Er schloss
     die Tür auf und stand dann da, betrachtete mit ungewohnter Aufmerksamkeit, als sehe er es zum |368| ersten Mal, das Zimmerchen, in dem er seit knapp zwei Jahren wohnte. Aber er schaute nicht abschätzend auf das klapprige Bett,
     die wurmstichige Kommode, den stockfleckigen Spiegel oder das Fensterchen, das auf die vermüllte Gasse hinter dem Haus ging,
     wie er es an dem Tag getan hatte, als die Vermieterin ihm die Unterkunft zeigte. Diesmal war Tom auf der Türschwelle stehengeblieben
     und betrachtete das Zimmer, als würde ihm mit einem Mal klar, dass dieser trübselige Raum, für den er kaum die Miete aufbringen
     konnte, alles darstellte, wozu er es im Leben gebracht hatte. Und ihn überkam die absolute Gewissheit, dass sich daran nie
     etwas ändern würde, dass diese Gegenwart unverrückbar feststand und unbemerkt in eine Zukunft übergehen würde, in der keine
     Veränderung vom Vergehen der Zeit kündete, und dass er allein in Augenblicken ungewöhnlicher Hellsichtigkeit wie diesem erkennen
     würde, dass ihm das Leben unter den Händen zerrann wie Wasser durch die geöffneten Finger.
    Aber er musste die Karten spielen, die er im Leben bekommen hatte, sagte er sich. Sein Vater war ein armer Teufel gewesen,
     der die Arbeit seines Lebens gefunden zu haben glaubte, als er damit anfing, die Abortgruben hinter den Häusern zu leeren.
     Jeden Abend ging er los, die Stadt von ihrem Unrat zu befreien, als würde die Königin höchstselbst ihn eines Tages zu dieser
     Drecksarbeit beglückwünschen, von der sie ebenso wie er überzeugt war, sie sei der Grundstein, auf dem das ganze Empire ruhte.
     Was sollte denn wohl aus einem Land werden, das in seinen eigenen

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