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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Zärtlichkeit hätte werden können, wenn die Infektion ihres Auges
     nicht für neuen Platz in seinem Bett gesorgt hätte.
    An einem regnerischen Morgen wurde sie in einem bescheidenen Kirchlein in der Nähe des Irrenhauses beigesetzt, ohne dass an
     ihrem Grab jemand eine Träne vergoss, ausgenommen Tom. Er hatte an diesem Tag das Gefühl, dass dort wesentlich mehr begraben
     wurde als nur Megans Körper. Man begrub seinen Glauben an das Leben; seine bescheidene Hoffnung, es mit Anstand bewältigen
     zu können; seine Unschuld. An diesem Tag wurde in einem billigen Sarg und zusammen mit dem einzigen Menschen, den er ebenso
     geliebt hatte wie seine Mutter, auch Tom Blunt beerdigt, der plötzlich nicht mehr wusste, wer er war. Er kannte sich selbst
     nicht wieder in dem jungen Mann, der noch in derselben Nacht dem Stuhlmacher auflauerte; in dem entfesselten Geschöpf, das
     sich auf den Mann stürzte und ihn gegen die Hauswand warf; in dem |372| wilden Tier, das ihn zu Boden warf und mit den Fäusten traktierte. Die Klagelaute des Unbekannten kündigten von nahem Tod,
     waren aber auch das Stöhnen einer Gebärenden, die einen neuen Tom zur Welt brachte, einen zu allem fähigen Tom, einen Tom,
     der imstande war, so was wie dies hier zu tun, ohne dass sein Herz schneller schlug, weil vielleicht jemand es herausgerissen
     und an die Chirurgen verkauft hatte. Er hatte versucht, anständig über die Runden zu kommen, doch das Leben hatte ihn immer
     wieder zertreten, als wäre er ein ekelerregendes Insekt. Ab jetzt galt es auf andere Weise zu überleben, sagte er sich mit
     einem letzten Blick auf das blutige Bündel am Boden, das einmal der Stuhlmacher gewesen war.
    Er war jetzt fast zwanzig, und das Leben hatte einen harten Glanz in seine Augen gelegt, der ihm im Zusammenspiel mit seinen
     Muskeln etwas Beunruhigendes, gar Streitsüchtiges gab, wenn er mit wiegenden Schultern die Straße entlangkam. So fiel es ihm
     leicht, sich dem übelsten Wucherer von Bethnal Green anzudienen, für den er tagsüber mit einer Liste der säumigen Schuldner
     loszog, die es einzuschüchtern galt, und den des Nachts zu bestehlen ihm nicht das Geringste ausmachte, so als wäre die Moral,
     die sein Handeln in der Vergangenheit bestimmt hatte, nur ein nutzloses Ding, das ihn daran hinderte, seine einzig und allein
     vom reinen Eigennutz diktierten Ziele zu erreichen. Sein Leben bestand ab jetzt aus nichts anderem mehr als dem Ausüben von
     Gewalt gegen Geld, das er für die Miete seiner Absteige brauchte und für die Dienste einer Hure dann und wann; ein Leben,
     das von einem einzigen Gefühl geprägt war: dem Hass, den er mit jedem Hieb seiner Fäuste düngte, als wäre er eine exotische |373| Blume; einem konfusen, aber intensiven Hass, der bei der geringsten Widrigkeit aufbrach, sodass Tom manchmal mit blaugeschlagenem
     Gesicht in die Pension zurückkehrte und auf dem Weg eine kurz und klein geschlagene Kneipe hinterließ. Seine Gefühllosigkeit
     in solchen Phasen, die eisige Gleichgültigkeit, mit der er Finger brach und seinen Opfern Drohungen ins Ohr flüsterte, war
     ihm durchaus bewusst, doch rechtfertigte er sich damit, dass er keine andere Wahl hatte, dass es ihm nichts bringe, gegen
     den Strom zu schwimmen, der ihn mitriss zu dem Ort, der ihm vielleicht bestimmt war. Wie eine Schlange, die ihre Haut abwirft,
     konnte er nur zur Seite schauen, derweil er auf dem Weg zur Hölle die Gnade Gottes von sich warf. Dafür war er vielleicht
     gerade noch gut genug. Wer weiß, vielleicht war er nur auf die Welt gekommen, um Finger zu brechen und unter Gaunern und Verbrechern
     einen Ehrenplatz einzunehmen. Und gewiss hätte er sich weiter diesem dunklen Ufer der Welt entgegentreiben lassen, losgelöst
     von jeder Verantwortlichkeit, wohl wissend, dass ihm früher oder später angetragen würde, seinen ersten Mord zu begehen, wäre
     nicht jemand zu der Überzeugung gelangt, dass die Rolle des Helden besser zu ihm passte.
    Tom stellte sich in Murrays Firma vor, ohne zu wissen, worin die Arbeit bestand, die dort angeboten wurde, und er sah immer
     noch die ungläubige Miene dieses Riesen vor sich, der hinter seinem Schreibtisch aufgestanden war, als er ihn eintreten sah,
     und wie er um ihn herumgegangen war und begeisterte Rufe ausgestoßen, seine Muskeln befühlt und sein Kinn gemessen hatte wie
     ein wahnsinniger Schneider.
    «Ich kann es nicht glauben; Sie sind genau so, wie ich |374| ihn beschrieben habe», sagte er, ohne dass

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