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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Exkrementen versank, pflegte er zu sagen. Zum Gespött seiner
     Freunde machte er sich, als er eines Tages äußerte, sein Traum sei, sich einmal einen größeren Karren zu |369| kaufen, mit dem er dann mehr Scheiße fortschaffen könne als jeder andere. Toms einzige Erinnerung an die Kindheit war der
     unerträgliche Gestank des Vaters, wenn der sich im Morgengrauen zu ihnen ins Bett legte und er dem widerlichen Geruch dadurch
     zu entgehen suchte, dass er sein Gesicht an die Brust der Mutter drückte, um den süßlichen Duft zu erschnuppern, der sich
     unter dem Körperschweiß eines zermürbenden Tages in der Baumwollfabrik erahnen ließ. Allerdings war jener Exkrementengestank
     immer noch besser gewesen als der säuerliche Geruch von billigem Wein, den sein Vater auszudünsten begann, nachdem das Aufkommen
     der Kanalisation seine lächerlichen Wünsche zunichtegemacht hatte, und die der kleine Tom nicht einmal mit dem karamelligen
     Geruch seiner Mutter bekämpfen konnte, die ein plötzlicher Choleraausbruch von seiner Seite gerissen hatte. Jetzt hatte Tom
     zwar mehr Platz im Ehebett, schlief aber trotzdem immer mit einem wachen Auge, da er stets damit rechnen musste, von seinem
     Vater mit dem Hosengürtel wach geprügelt zu werden, wenn sich dessen ganzer Groll auf die Welt wieder einmal auf seinem zarten
     Rücken entlud.
    Als Tom sechs wurde, zwang ihn der Vater, betteln zu gehen. An das Mitgefühl der Menschen zu appellieren war zwar eine undankbare
     Tätigkeit, kostete ihn aber keine große Mühe, und richtig schätzen lernte er sie erst, als er dem Vater bei dessen neuer Arbeit
     helfen musste, die dieser dank seines Karrens und seines gekonnten Umgangs mit der Schaufel bekommen hatte. So lernte Tom,
     dass der Tod nicht nur abstrakt sein, sondern auch Form und Gewicht haben kann; vor allem aber hinterließ er ihm ein Gefühl
     von Kälte in den Fingern, das kein Feuer jemals |370| würde vergessen machen können. Außerdem lernte er, dass, wer im Leben nichts wert gewesen war, als Toter durchaus wertvoll
     sein konnte, da sein Körper ein kleines Vermögen an inneren Organen enthielt. Er fledderte Särge und Gräber für einen ehemaligen
     Boxer namens Crouch, der die Leichen an Chirurgen weiterverkaufte, bis sein Vater, wieder einmal sinnlos betrunken, in die
     Themse fiel und ertrank. Von einem Tag auf den anderen stand Tom nun ganz allein in der Welt; er ganz allein hielt nun aber
     auch die Zügel seines Lebens in der Hand. Er konnte jetzt aufhören, die Toten um ihren Schlaf zu bringen. Ab jetzt entschied
     er selbst, wo es langging.
    Das Schleppen von Leichen hatte ihn stark und kräftig gemacht, daher fand er bald ehrenvollere Arbeit. Doch nie blies das
     Schicksal genügend Wind in seine Segel, um ihn aus dem Leben von der Hand in den Mund hinauszutragen. In kurzer Zeit verdingte
     er sich als Straßenkehrer, Kutschenschlagöffner, Kammerjäger und sogar als Schornsteinfeger, bis er und sein Kumpel beim Ausräumen
     eines Hauses, dessen Kamine sie fegen sollten, erwischt und sie beide von der Dienerschaft auf die Straße geworfen wurden,
     wobei noch ein paar blaue Flecken als Trinkgeld heraussprangen. Das alles kam jedoch zu einem guten Ende, als er Megan kennenlernte,
     ein hübsches Mädchen, mit dem er einige Jahre in einem stickigen Keller in der Hague Street in Bethnal Green zusammenwohnte.
     Megan war für ihn nicht nur eine angenehme Abwechslung im täglichen Überlebenskampf, sondern sie brachte ihm auch das Lesen
     bei, wozu sie sich weggeworfener alter Zeitungen bediente. So entdeckte Tom, was sich hinter den bislang unerklärlichen Schriftzeichen
     verbarg, und stellte fest, dass diese |371| Welt genauso schrecklich war wie seine eigene. Unglücklicherweise ist das Glück in manchen Vierteln nur von kurzer Dauer,
     und Megan verließ ihn schon bald wegen eines Stuhlmachers, der den Hunger nie kennengelernt hatte.
    Als sie zwei Monate später mit blauen Flecken im Gesicht und einem zugeschwollenen Auge wieder bei ihm aufkreuzte, nahm Tom
     sie zu sich, als sei sie nie fort gewesen. Auch wenn ihr Verrat der Todesstoß für die von den Umständen allzu sehr gestrafte
     Liebe war, pflegte Tom sie Tag und Nacht, gab ihr Opiumsaft zu trinken, um ihre Schmerzen zu lindern, und las ihr aus alten
     Zeitungen vor, als wären die Nachrichten Gedichte. So hätte er bis an sein Lebensende weitergemacht, durch ein Mitleid an
     sie gefesselt, welches mit der Zeit vielleicht wieder zu

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