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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Tom begriff, wovon zum Teufel dieser Mann überhaupt sprach. «Sie sind der wahre
     Hauptmann Derek Shackleton.»
    Dann führte er ihn in einen riesigen Keller, in dem merkwürdig verkleidete Männer ein Theaterstück zu proben schienen. Da
     hatte er zum ersten Mal Martin, Jeff und die anderen gesehen.
    «Gentlemen, darf ich Ihnen Ihren Hauptmann vorstellen», verkündete Gilliam, «den Mann, für den Sie Ihr Leben riskieren sollen.»
    So kam es, dass der Schläger, Dieb und Radaubruder Tom Blunt von heute auf morgen zum Retter der Menschheit wurde. Die neue
     Arbeit füllte seine Taschen, aber nicht nur das: Sie rettete seine Seele vor dem Höllenfeuer, da er fortan das Fingerbrechen
     für nicht mehr vereinbar mit seiner Tätigkeit als Weltenretter hielt. So lächerlich es klingen mag, da beides durchaus hätte
     zusammengehen können, aber es war, als würde die edle Gesinnung Derek Shackletons ihn von innen erleuchten, dieses Licht den
     Krater ausfüllen, den die herausgerissene Seele des ursprünglichen Tom Blunt hinterlassen hatte, und auf ganz natürliche und
     friedliche Weise Besitz von ihm nehmen. Nach der ersten Probe zog Tom zwar die Rüstung des Hauptmanns Shackleton aus, beschloss
     aber, dessen Persönlichkeit mit nach Hause zu nehmen; oder vielleicht war es auch ein ganz unbewusster Akt. Es erschien ihm
     jedenfalls verführerisch, die Welt mit den Augen ihres Retters zu sehen, in dessen Brust ein ebenso tapferes wie weites Herz
     pochte. An diesem Tag beschloss er, sich eine anständige Arbeit zu suchen, als hätte dieser Riese namens Gilliam Murray mit
     seinen Worten den winzigen Rest von |375| Menschlichkeit zum Aufflackern gebracht, deren Glut in Toms Brust noch nicht ganz erloschen war.
    Doch jetzt drohten seine Pläne für ein neues Leben nur wegen dieser blöden Kleinen zunichtegemacht zu werden. Er setzte sich
     im Bett auf und wickelte den Sonnenschirm aus, den er in seiner Jacke verborgen hielt und der mit Abstand der teuerste Gegenstand
     im ganzen Zimmer war. Wenn er ihn verkaufte, könnte er vom Erlös zwei oder drei Monate lang die Miete zahlen, sagte er sich
     und befühlte den blauen Fleck an der Hüfte, wo er den Beutel mit Tomatensaft getragen hatte, den Martin ihm beim Duell zerschlagen
     musste. Ein Gutes hatte die Begegnung mit der Kleinen wenigstens gehabt, wenngleich er über die Unannehmlichkeiten, in die
     sie ihn damit gestürzt hatte, schwerlich hinwegsehen konnte. Er mochte gar nicht daran denken, welche Probleme er bekam, wenn
     sie ihm zufällig auf der Straße begegnete. Sollte das wirklich einmal passieren, würden sich die schlimmsten Befürchtungen
     seines Chefs bewahrheiten, denn die junge Dame würde sofort erkennen, dass ZEITREISEN MURRAY ein einziger Betrug war. Und
     dabei blieb es ja nicht; sie würde natürlich auch herausfinden, dass er kein Held der Zukunft war, sondern bloß ein armer
     Teufel ohne jede Zukunft, und dann könnte Tom mit ansehen, wie aus ihrer Bewunderung für ihn Enttäuschung würde und vielleicht
     sogar nur schlecht verhehlter Abscheu, als würde sie einem Schmetterling zusehen, der sich in eine Raupe verwandelte. Verglichen
     mit der Aufdeckung des Betrugs, war das natürlich nur ein kleines Übel, und doch würde es ihm sehr viel nähergehen. Denn eigentlich
     kannte er kein größeres Vergnügen, als sich den entrückten Blick des Mädchens vor Augen zu |376| führen, obwohl er wusste, dass dieser Blick nicht ihm, sondern dem Helden gegolten hatte, den er verkörperte, dem tapferen
     Hauptmann Shackleton, dem Retter der Menschheit. Ja, ihm wäre sehr viel wohler, wenn Claire ihn beim Wiederaufbau der Welt
     im Jahr 2000 wähnte als in diesem schäbigen Verschlag an das Geld denkend, das irgendein Pfandleiher ihm vielleicht für ihren
     Sonnenschirm gab.
     
    Wer in den ersten Morgenstunden den Markt von Billingsgate aufsucht, weiß, dass die Gerüche schneller sind als das Licht.
     Noch bevor der erste Widerschein des heraufziehenden Tages die Schwärze der Nacht versehrt, ist die kalte Nachtluft bereits
     erfüllt von den Meeresdünsten der Schalentiere und dem penetranten Gestank der Aale auf den überquellenden Karren der Fischer.
     Tom Blunt schlängelte sich zwischen den Ständen der Austern und Tintenfische – drei Stück für einen Penny – anpreisenden Händler
     hindurch zur Absperrung am Hafen, wo sich andere Hungerleider wie er zusammengefunden hatten, Muskeln und Entschlossenheit
     zeigten und darauf hofften, dass der

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