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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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sie gekommen waren.
    Während sie den Rückweg zu den größeren Straßen einschlugen, fragte sich Andrew, ob die Tatsache, dass er zwischen ihren Schenkeln
     gekommen war, ihn dazu berechtigte, den Arm um ihre Schultern zu legen. Er kam zu dem Schluss, dass dies der Fall war, und
     wollte es gerade tun, als ihnen ein Pärchen entgegenkam, das sich wie blind durch den schmalen Durchgang tastete. Andrew murmelte
     eine Entschuldigung, an den Mann gerichtet, mit dem er zusammengestoßen war und der ihm, obwohl kaum mehr als ein Schatten
     in der dunklen Gasse, kompakt und massig |55| vorkam. Er hielt eine Hure im Arm, der Marie Kelly einen vergnügten Gruß zurief.
    «Alles deins, Annie», sagte sie und meinte damit den Hinterhof, den sie soeben verlassen hatten.
    Die mit Annie Angesprochene dankte ihr mit einem misstönenden Gelächter und zerrte ihren Begleiter zum Ende des Durchgangs.
     Andrew sah sie sich stolpernd im Dunkel verlieren. Würde sich dieser Kraftprotz damit zufriedengeben, wenn sie seinen Penis
     zwischen ihre Schenkel klemmte, fragte sich Andrew, dem nicht entgangen war, wie lüstern der Kerl die kleine Hure an sich
     drückte.
    «Ich hab’s Ihnen ja gesagt, ein stilles Plätzchen», bemerkte Marie Kelly spöttisch, als sie auf die Hanbury Street hinaustraten.
    Vor dem
Britain
verabschiedeten sie sich ohne viele Worte. Etwas entmutigt wegen der Gefühllosigkeit, die sie nach dem Akt an den Tag gelegt
     hatte, versuchte Andrew sich in dem Gewirr der trüben Gassen zu orientieren und machte sich auf die Suche nach der Kutsche.
     Er brauchte über eine halbe Stunde, sie zu finden. Er vermied es, Harold anzusehen, als er einstieg.
    «Nach Hause, Sir?», fragte der Kutscher spitz.
     
    Als er am nächsten Abend in den
Britain Pub
ging, hatte er sich vorgenommen, als selbstsicherer Mann aufzutreten und nicht als der unerfahrene eingeschüchterte Fatzke
     der ersten Begegnung. Er musste seine Nervosität vergessen und zeigen, dass er sich dem Ambiente anpassen und das Mädchen
     mit seinem Charme einfangen konnte, mit dem ganzen Repertoire von Lächeln und Schmeicheln, mit dem er die Damen seines Standes
     zu bezaubern pflegte.
    |56| Marie Kelly saß an einem Ecktisch und nickte ihm über einem Pint Bier erschöpft zu. Die kummervolle Haltung der jungen Frau
     bestürzte ihn, doch da er sich außerstande fühlte, auf die Schnelle einen neuen Plan zu entwickeln, beschloss er, es bei dem
     alten zu belassen. Er holte sich an der Theke ein Bier, setzte sich zu dem Mädchen an den Tisch und sagte so ungezwungen wie
     möglich, er kenne ein unfehlbares Mittel, ihren verärgerten Gesichtsausdruck verschwinden zu lassen. Der Blick, den Marie
     Kelly ihm zuwarf, bestätigte ihm, was er schon befürchtet hatte: Eine unglücklichere Bemerkung hätte er kaum machen können.
     Andrew war überzeugt, sie würde ihn fortschicken, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, mit einer Handbewegung, so wie man
     eine lästige Fliege verscheucht. Doch sie fing sich und starrte ihn einige Sekunden lang interessiert an, bis sie offenbar
     zu der Erkenntnis kam, dass sie ihm so gut wie jedem anderen ihr Herz ausschütten konnte. Sie nahm einen Schluck aus ihrem
     Krug, als ob sie sich die Kehle frei spülen wollte, und erzählte ihm, ihre Freundin Anne, der sie am Abend zuvor in der Hanbury
     Street begegnet waren, sei am frühen Morgen in dem Hinterhof, in dem sie beide ebenfalls gewesen waren, ermordet aufgefunden
     worden. Der Ärmsten war der Kopf fast abgeschnitten, ihr Leib von oben bis unten aufgeschlitzt, die Därme herausgerissen und
     die Gebärmutter herausgeschnitten worden. Andrew stammelte ein «tut mir leid» und war über die Akribie, mit der der Mörder
     vorgegangen war, ebenso erschüttert wie von der Tatsache, wenige Augenblicke vor dem Verbrechen mit ihm zusammengestoßen zu
     sein. Es war offensichtlich, dass diesem Kunden der normale Service nicht gereicht hatte. Doch Marie Kelly sorgte sich mehr
     um eine andere Sache. |57| Ihren Worten nach war Anne die dritte Prostituierte, die in weniger als einem Monat in Whitechapel umgebracht worden war.
     Am 31.   August war Polly Nichols mit durchgeschnittener Kehle in der Bucks Road, gegenüber dem Essex-Kai, aufgefunden worden, und
     am 7. dieses selben Monats hatte man eine gewisse Martha Tabram brutal mit einem Taschenmesser erstochen und die Treppe einer
     Absteige hinuntergeworfen. Marie Kelly war überzeugt, dass eine erpresserische Bande aus der Old Nichols

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